Der Markt der Lüste

■ Alle Jahre wieder: Die neueste Ausgabe des „IRRTU(R)M“, Zeitschrift von Psychiatriebetroffenen, widmet sich dem Thema Beziehungen-Beziehungslosigkeit

Wer im Keller wohnt, Bahn fährt, 100 kg wiegt und bißchen komisch guckt, der kriegt keine Braut ab. Dem bleibt, die Sehnsucht im Suff zu ertränken, Hochglanz zu wichsen, im Puff Hüterli blasen und die Aldi-Suppe allein vor der primitiven Glotze auszulöffeln und weiterhin artig Pillen zu schlucken. Ein Leben, das sich lohnt?“Schwer zu sagen. Klingt jedenfalls nicht so. Aber Georg Hubrich, Autor dieser Zeilen, macht einen ganz lebensfrohen Eindruck. Zumindest auf dem Foto. Womöglich auch deshalb, weil er nicht so aussieht, als wöge er 100 kg und neigte dazu, seltsam aus der Wäsche zu gucken. Aber da lauern noch „Impotenz, Unlustgefühle, Mangel an Geld“. Und all das zusammen macht Psychos nicht gerade zu Rennern auf dem Markt der Lüste.“Und wer kein Renner im unbarmherzigen Beziehungsnahkampf ist, ob Psycho oder nicht, guckt nicht nur komisch. Ein Leben, das sich lohnt?

Zumindest eines, worüber sich viel erzählen läßt. Zumeist trauriges, viel zorniges und nicht selten (unfreiwillig) komisches. 160 DIN-A4 Seiten voller Geschichten, Gedichte, Bildern und Photos, 160 Seiten Bekenntniszwang, Anklage, Wut, Zwangsreime, Träume und Sehnsüchte. Die neueste, 10. Ausgabe der Zeitschrift „IRRTU(R)M“, einem seit neun Jahren existierenden Projekt von – wie es politisch korrekt heißt – „psychiatrieerfahrenen AutorInnen“, ist so umfangreich wie noch nie. Wen wundert's: „Beziehungen-Beziehungslosigkeit“war das Schwerpunktthema. Und worüber ließe sich mehr erzählen als über die verzwickten Beziehungen zum Traumann, dem ignoranten Therapeuten, dem tyrannischen Vater oder der allumfassenden Mutter Natur?

„Was klopfst Du so stürmisch, mein Herz? Hast erlitten viel Schmerz, denn die Liebe ist kein Scherz. Und wenn Du aufhörst zu schlagen, mein Herz, ist auch vorbei mein Schmerz!“Gisela Meyers kleines, wundervoll sentimentales Gedicht bringt es auf den Punkt. Wozu abtauchen in die Abgründe verschwurbelter Poesie, weshalb endlos komplizierte Metaphern würgen, bedeutungsschwangere Bilder rausblasen: Beziehungen tuen weh, so auch ich das seh!

Doch nur aus wenigen Texten schimmert diese spielerisch-unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Zumeist geht es schonungslos zur Sache. Bis an die Grenze des Zumutbaren wird von den meisten der 18 Mitglieder des Redaktionskollektivs die eigene Biografie herausgeschleudert. Sexueller Mißbrauch, Schläge, Liebesentzug, gescheiterte Beziehungen, Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten, medikamentöse Mißhandlungen, Abstürze mit Drogen aller Art: Keine zwischenmenschliche oder institutionell verankerte Schweinerei, die nicht ihren beklemmenden Niederschlag gefunden hätte zwischen den blauweißen Buchdeckeln. „Psychos“, sagt der Sozialpädagoge Gotthard Raab, der den IRRTU(R)M mitbegründet hat und betreut, „sagen und leben das, was die Normalbevölkerung unterdrückt.“Mag sein, daß das so ist. Aber schön ist das zumeist nicht. Und um ihre Hemmungslosigkeit, ihren Tanz am Rande des Wahns beneidet sie vorbehaltslos nur der Mensch, der die Annehmlichkeiten seines verklemmten und von Konventionen durchzogenen Alltags nicht zu schätzen weiß. Ein Blick in den IRRTU(R)M genügt, um sich plötzlich an der eigenen Spießigkeit zu erfreuen. „Psychos sind aus der Realität gefallen“, schreibt Mani. Oft tut das auch sehr weh.

Aber manchmal ist das auch irre schön. Schön wie Karins vierzeiliger Reim. „In diesem schönen Hause, saß ich an einem hohen Tisch trank leckere Brause und aß seltenen Fisch.“Was für eine literarische Perle! Ab sofort mein Lieblingsgedicht. zott

Die Zeitschrift „IRRTU(R)M“kostet vier Mark und kann in den Buchläden Ostertor u, Neustadt, den Tagestätten für Psychiatrieerfahrene, dem Zentralkrankenhaus Ost, den Beratungsstellen des sozialpsychiatrischen Dienstes erworben und unter der Adresse „Zeitungsinitiative 'IRRTU(R)M', Vegesacker Straße 174, 28219 Bremen bestellt werden