Klang, befreit vom Zwang

■ Bohrende Tonspitzen und Harmonien ohne feste Gesetze: Rihm, Varèse und Xenakis im „neuen werk“des NDR-Studios

Das „neue werk“im NDR-Studio in der Oberstraße gibt es seit Ewigkeiten – auch wenn meistens nicht gerade keiner, aber viel zu wenige hingehen. Daß der Hamburgische Generalmusikdirektor hingeht mit einigen Solisten aus seinem Staatsopernorchester, um dort neue Musik aufzuführen, gibt es erst seit kurzem. Am Freitag abend wurde nagelneue Musik aufgeführt, einer der Komponisten, Wolfgang Rihm, saß zweite Reihe rechts; erste Reihe Mitte hingen die stark erkältete, trotzdem absolut hustenstille Kultursenatorin.

Edgar Varèses (1882-1965) Ostandre von 1923 spielten die Philharmoniker zu Beginn und am Ende. Die Komposition für sieben Bläser und Kontrabaß setzte die Parameter an diesem Abend, der dem vielfach veränderbaren Klang gewidmet war. Töne, wo sie dem Zwang entgehen, Melodie sein zu müssen oder Harmonie nach festen Gesetzen, bedeuten nur noch sie selbst und werden – als farb-räumliches oder rhythmisches Ereignis – zu Klängen. Varèses Stück widmet sich der spannungsgeladenen Integration solcher Gestaltalternativen von Klang.

Sensibel und virtuos wurden die Instrumente auch in Iannis Xenakis' (geboren 1922) Anaktoria aus dem Jahr 1969 behandelt. Hier werden die empfindsamen und wie zufällig strukturierten Klangflächen von jäh auftretenden Tonspitzen durchbohrt, die ihre Ruhe vorübergehend (zer)stören. In Rihms (geboren 1952) Silence To Be Beaten von 1983 waren die Klänge in ihrer Dämmertauglichkeit ausgerichtet auf ein Schweigen, aus dem sich, gezwungen von starken Trommelhieben, die Kräfte immer neu bündelten und entluden, geschlagene 14 Minuten. In Xenakis' Waard (1988) wie in Rihms Triptychon (1996) fügten sich die Instrumente – bei letzterem mit Piano als Klang- und Schlaggerät – zur je dichten oder transparenten Faktur eines Klangkörpers mit all seinen „Anlagerungen, Fortspinnungen, Auswüchsen“(Rihm).

Der Augenblick, der hier zu Musik ward, soll besser nicht verweilen. Er wird imer neu. Und das ist das Schöne.

Stefan Siegert