■ Zahl des Jahres: 31.000.000 sind aidsinfiziert und keiner sieht hin
: Positionsverlust

Welches war die wichtigste Zahl des Jahres 1997? Kaum jemand dürfte die Frage mit der Ziffer „31.000.000“ beantworten. Und doch transportiert gerade sie einen Einschnitt. Es ist die von den Vereinten Nationen ermittelte Zahl der weltweit mit dem Aidsvirus HIV lebenden Menschen. Die UN haben die bisherigen Abschätzungen aufgrund neuen Datenmaterials nach oben korrigieren müssen. Danach haben sich allein in diesem Jahr 6 Millionen Menschen angesteckt, 16.000 an jedem Tag. Entscheidend ist nicht die absolute Zahl, sondern die Dynamik, die sie enthält. Alle Hoffnungen, daß die Spitze der Epidemie gebrochen sein könnte, haben sich als verfrüht erwiesen. Es infizieren sich mehr Menschen als jemals zuvor. Im nächsten Jahr werden es vermutlich schon sieben oder acht Millionen sein. Zur Jahrtausendwende leben dann fast 50 Millionen Menschen mit HIV.

Überraschend an der neuen UN-Zahl war das Desinteresse, daß sie ausgelöst hat. Selbst am Welt-Aids- Tag kam die Botschaft nicht rüber. Die meisten Zeitungen berichteten eher knapp und analysierten lieber die Entwicklung in Deutschland, wo es erfreuliche Trends gibt. Mehr und mehr fällt die Entwicklung in Afrika und Asien aus unserer Wahrnehmung. Ungerührt sehen die Industrieländer weg, wenn die Infektionskrankheit – ganz langsam und gut dokumentiert – Afrika und Asien verheert. Selbst die Zahl von 250 Millionen Dollar, die Aids nach neuesten Schätzungen an jedem Tag seit 1980 die Weltgemeinschaft gekostet hat, scheint die ökonomisch fixierte Öffentlichkeit nicht mehr zu beeindrucken. Es ist ein nicht ganz unbekanntes Phänomen: Nachdem jahrelang die Katastrophe beschworen wurde, erlahmt die Aufmerksamkeit just in dem Augenblick, in dem sie eintritt.

Aber es ist mehr: Die Infektionskrankheit Aids verliert ihre Sonderstellung, die sie einige Jahre innehatte, als sie aus dem Katastrophenkonzert von Hunger und Malaria, Tuberkulose und Diarrhoe herausragte. Jetzt droht die rollende HIV-Lawine denselben Status einzunehmen wie all die anderen Killer in den Hinterhöfen der Welt, die nur noch als Randnotiz die Infotainment-Gesellschaft belästigen. Was jetzt nötig wäre, ist eine neue Bestandsaufnahme der weltweiten Aids-Politik und eine Erneuerung jenes unsäglichen Aids-Gipfels von Paris, auf dem viel versprochen, aber wenig auf den Weg gebracht wurde. Aids ist – eigentlich – eine schwer übertragbare, leicht zu bekämpfende Krankheit. Entweder die Weltgemeinschaft findet sich zu einer Art „Manhattan-Project“ gegen die Epidemie zusammen und vervielfacht ihre Anstrengungen oder ...

In den schlimmsten Regionen des südlichen Afrika ist schon jeder zweite Erwachsene infiziert. Manfred Kriener