Gewinnerspieler und Verliererspieler

Fotografie in den großen Städten der Welt: Der Amerikaner Philip-Lorca DiCorcia stellt Straßenaufnahmen her, bei denen sich Wirklichkeit erst durch die szenische Übertreibung einstellt. Seine Arbeiten zum urbanen Alltagsleben sind jetzt in Köln zu sehen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Mit den Unmengen von Fotografien, die sich auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt stapeln, kehrt die Frage nach der Rolle der Fotografie in der Kunst zurück. Während man vor zwanzig Jahren noch dazu neigte, die fotografische Mimesis platt zu finden – was an Fotos störte, war die Wirklichkeit –, sind es jetzt die gestellten Szenarios und geschmacklos übertriebenen Tableaus, die Verdacht erregen. Und zwar den Verdacht, die fotografische Technik erlaube eine Abkürzung ins Reich des Phantastischen, die im Sinne der Kunst nicht legitim sei. Ein Blick, zum Beispiel, in die Ausstellung über britische Kunst, kürzlich in der Berliner NGBK: Die drastischen Nachtszenen im Stehen pissender Damen bleiben eben doch schillernde Albernheiten. Und die „Wirklichkeit“? Nun, die präzisen Stilleben aus Wachen und Fahrzeugen der britischen Polizei, dagegen, prägen sich tief ins Gedächtnis ein. Sie sind gesehen, aber nicht erfunden.

Einige Fotografen allerdings – die dritte Möglichkeit – haben sich auf ein flirrendes Mittelding spezialisiert, eine Art szenische Übertreibung. Zum Beispiel Philip-Lorca DiCorcia, der wie Nan Goldin 1953 geboren ist und auch mit ihr in Boston studiert hat, Mitte der siebziger Jahre. DiCorcia bereist die großen Städte der Welt und nistet sich mit seiner Ausrüstung an belebten Plätzen ein. Bei Tageslicht, auf Plätzen und in Straßenschluchten, isoliert der Fotograf einzelne oder mehrere Figuren im weißlichen Licht des Blitzes, dem Betrachter nah. Man muß sich das wohl so vorstellen, daß der Fotograf mit Kamera und Lichtstativen eine Situation baut, die den Fußgängerverkehr nicht stoppt, aber im Blickfeld der Kamera zu prägnanten Szenen führt.

In Neapel zeigt er, im scharf zeichnenden Seitenlicht, einen Schlenderer, dessen gezielte Planlosigkeit gegen den Herdengang der Touristen betont wird. In Paris, auf einer der großen Alleen, sehen wir eine Frau in Eile und einen Mann an ihrer Seite, der mit warmen Augen seinen Blick in sie senkt: unmöglich zu entscheiden, ob es sich um ein Paar im Gleichschritt handelt oder um den vergeblichen Versuch eines Schnorrers.

Ein Straßenjunge, dem sein verbliebenes Auge genug ist, um mit zynischer Blödheit in die Welt zu grinsen, ist wie in einem Tanz vor der Kamera gefroren, die Hände – gewollt – seinen Hosenstall verbergend, als wäre er nackt: Odessa. Andere Szenen illuminieren mehr oder weniger wahrscheinliche Begebenheiten in Los Angeles, New York und Hongkong. Zur Zeit, heißt es, arbeite DiCorcia in Berlin.

Die gedämpften Kontraste mit ihren überraschend matten Farben erinnern an die primitiv beleuchteten Straßenszenen einschlägiger Fernsehserien. Allerdings nimmt sich DiCorcia der Statisten an, die sich als dynamische Banker, irritierte Kunden und eilige Busineßdamen typgerecht stilisiert haben. DiCorcia stützt sich wenig auf den Kontrast von Wohlhabenden und Habenichtsen – das wäre ein guter Grund, in den Zentren zu fotografieren –, sondern macht das Gefälle an Tätigkeit und Untätigkeit fest. Seine Straßen sind bevölkert von Leuten mit Berufen und solchen ohne. Wenn man es nicht an der Kleidung und am Gepäck erkennt, dann am Tempo. Darauf ist DiCorcias choreographischer Blick spezialisiert.

Insofern besetzt Philip-Lorca DiCorcia eine psychologisch-mediale Nische, die er langsam auffaltet zu einem Panorama. Wenn man zwanzig Bilder auf einmal sehen kann, wie jetzt in der eiskalten Garagenhalle einer Kölner Galerie, gewinnt das recht subtile Spiel an Überzeugung.

Etwas wunderlich ist, wie konventionell die Bildgröße gewählt ist und wie brav darum die Passepartouts und Holzrahmen gezogen sind. Man ist inzwischen ziemlich verwöhnt, von den leuchtenden Tableaus eines Jeff Wall oder den knisternden Bubblejetprints eines Wolfgang Tillmans. DiCorcias Fotografie tritt als „Schöne Fotografie“ in Erscheinung.

Tatsächlich ist sie mit der museumsreifen Straßenfotografie, zum Beispiel von Joel Meyerowitz aus den siebziger Jahren, eng verwandt. Meyerowitz hat damals versucht, die schnelle, investigative Straßenfotografie von Lee Friedlander und Garry Winogrand auf die Farbe zu übertragen. Dabei hat er seinen Bildraum auf die tiefen Schatten der New Yorker Uptown-Straßen gebaut.

Das Thema war der Mensch in seiner Stadt (die seine nicht ist). DiCorcia betrachtet den gebauten Stadtraum nur als Akkumulation von Zeichen; er deutet ihn nicht aus. Sein Blick ist gefangen von der menschlichen Figur, die er als Gewinnerspieler und Verliererspieler in einem globalen Arrangement sichtbar macht.

Philip-Lorca DiCorcia, bis zum 28. Januar 1998 in der Galerie Klemens Gasser und Tanja Grunert, Köln, Venloer Straße 19