■ Verliert die SPD die Bundestagswahl bereits in Hannover? Ihr Verfahren zur Nominierung des Kanzlerkandidaten ist irrational
: Angst verhindert Orientierung

Die SPD veranstaltet am 1. März ein politisches Großexperiment. Sie läßt durch die niedersächsischen Wähler den Kanzlerkandidaten ihrer Partei bestimmen. Sie tut das aus Angst. Aus Angst vor den Wählern, die einen bereits nominierten Kanzlerkandidaten im Regen stehen lassen und damit einen ganzen Bundestagswahlkampf überflüssig machen könnten. Aus Angst vor Gegner und Medien, die einen zu früh nominierten Kandidaten frühzeitig demontieren. Aus Angst vor einer Debatte von Entscheidungskriterien über den richtigen Kandiaten – soll die Egoorientierung von Lafontaine oder die Erfolgsorientierung der Partei gelten?

Die Angst vor dem Wähler scheint vernünftig, da es ja ein dummer Zufall ist, daß einer der beiden Infragekommenden seinen Wahltermin gerade ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl hat. Aber selbst dies ließe sich umkehren: Hätte nicht ein bereits nominierter Kanzlerkandidat sowie eine formierte und mobilisierte SPD, die die Vorentscheidung in Hannover aktiv gestaltet, eine größere Chance als eine Partei, die sich mit einer unerledigten Frage ihres Vereinslebens hilfesuchend an die Öffentlichkeit wendet?

Die Spätnominierung aus Angst vor Gegner und Medien verkennt die Notwendigkeit, wenigstens ein Jahr lang einen gewissen Gleichklang zwischen dem Image des Kandidaten und dem der Partei herzustellen. Hier fürchtet man die Gemeinheit des Gegners mindestens so sehr wie die eigene Partei. Kann sie so lange stillhalten und ertragen, daß sie durch den Kandidaten definiert wird?

Die Verhinderung einer offenen Debatte kommt auch aus der Angst vor der Offenlegung der Kriterien. Der Narzismus des Oskar Lafontaine – sein Gefühl, der beste aller Enkel zu sein, sein Bedürfnis, die schwere Niederlage von 1990 auszubügeln – ist Privatsache, kein öffentlich kommunizierbares Argument. Handelte die SPD aber rational im Sinne des Erfolgs, brauchte sie die Landtagswahl in Niedersachsen nicht. Dann käme zum Tragen, daß Gerhard Schröder der für Kohl gefährlichste Gegenkandidat ist.

Es ist bizarr und als Verfahren irrational: Ein paar zehntausend Wähler in Niedersachsen entscheiden über den Spitzenmann und damit möglicherweise über den Ausgang der Bundestagswahl. Verliert Schröder auch nur ein Zehntel Prozent gegenüber der letzten Landtagswahl und dazu noch – was sowieso wahrscheinlich ist – die absolute Mehrheit, ist er „Verlierer“. Lafontaine braucht dann von seiner Egoorientierung nicht zu reden, sondern kann sich selbst, mit Argumenten der Erfolgsorientierung, vorschlagen. Ein Kanzlerkandidat Lafontaine – im Troß einen geschwächten Schröder, der seine Wähler belügen müßte, um auch nur Minister in Bonn zu werden –, ein solcher Linkskandidat würde zu spät zur unentschiedenen Mitte aufbrechen, und er würde Helmut Kohl viel bei dem schwierigen Geschäft helfen, dessen unzufriedenes Lager zu mobilisieren.

Hält Schröder seine 44,3 Porzent von der letzten Landtagswahl, oder legt er noch zu, wäre für Lafontaine schon das innerparteiliche Risiko zu groß, sich selbst an Stelle dieses Wahlsiegers zu setzen. Tritt diese optimistische Variante ein, würde sich das Ganze als geniale Inszenierung darstellen. Dann, aber auch nur dann, wäre es vernünftig gewesen, daß beim vergangenen Parteitag die Rollen Innovation und Gerechtigkeit auf die beiden Kandidaten verteilt wurden, daß beide ihre völlig konträren Weltsichten ausbreiteten, daß der eine zur Partei und der andere zu den Wählern sprach. Dann könnte es zu einer Reprise der achtjährigen Arbeitsteilung zwischen Brandt als halblinkem Parteiintegrator und Schmidt als halbrechtem Regierungsmacher kommen.

Bis jetzt hat sich das Offenlassen der Kandidatenfrage nicht nachteilig für die SPD ausgewirkt, sieht man mal von den Kleinigkeiten ab, daß sie demoskopisch noch nicht stärker ist als 1994 und daß die Mehrheit der Wähler zwar einen Regierungswechsel will, vielen dabei aber die SPD nicht einfällt. Die Mehrheit der Befragten hält es auch heute noch für richtiger, wenn die SPD ihren Kanzlerkandidaten schon nominiert hätte. Aber die Medien sind im großen und ganzen der Inszenierung der SPD gefolgt. Sie haben sich mit der Ersatz-Personalisierung dieser beiden dem gewundenen Lauf der Mosel entlangwandernden 50jährigen zufriedengegeben.

Das Stillhalteabkommen zwischen Lafontaine und Schröder ist aber auch Stillstand für einen wirklich orientierenden Wahlkampf der Partei. Der Wahlkampfapparat CDU bereitet sich, in getrennten Teams, auf zwei Kanzlerkandidaten ihres Gegners vor, die SPD auf keinen. Tony Blair hat nicht gesiegt, weil er das gleiche wie Schröder sagt, sondern weil er es drei Jahre lang gesagt und einer skeptischen Öffentlichkeit eingeprägt hat, daß seine Partei das auch will – was sie definitiv nach seinem Wahlsieg dann auch wollen mußte.

Gerhard Schröder ist mit Abstand populärer als Lafontaine und wird in praktisch allen Politikfeldern für kompetenter gehalten als sein Konkurrent. Das gilt in besonders hohem Maße für die Wirtschaftskompetenz, die in diesen Zeiten von allen Kompetenzzuschreibungen natürlich die wichtigste ist. Aber das muß ihm bei den das Wahlplebiszit entscheidenden Zehntausenden niedersächsischer Wähler nicht helfen.

Über seine Aussichten in Niedersachsen wird sich Gerhard Schröder nicht täuschen. Der Trend bei den Landtagswahlen seit 1995 ist für die SPD lückenlos negativ. Bei der letzten Niedersachsenwahl errang die Partei ihr bestes Ergebnis seit über 24 Jahren. Die absolute Mehrheit verdankte sich Zufällen, vor allem dem ganz ungewöhnlichen Anteil von 11,9 Prozent Wählern, deren Parteien an der Fünfprozenthürde scheiterten. Schröder hat, mehr noch in seinen landes- als in den bundespolitischen Aussagen, gegenüber den Grünen polarisiert. Er wird, da die Grünen gut im Trend liegen, Wähler an die Grünen verlieren. Die meisten der sozialdemokratischen Wähler, die er an die Grünen verliert, muß er durch Wechselwähler von der CDU kompensieren. Das wird schwieriger als 1994, wo es in begrenztem Umfang gelang.

Je deutlicher die Wähler sind, desto kleiner der Spielraum des derzeitigen Spielführers der SPD, Oskar Lafontaine. Das Verfahren engt die Strategiewahl ein. Die Bundestagsabgeordneten, die Mitglieder, selbst die Parteitagsdelegierten würden heute Gerhard Schröder zum Kanzlerkandiaten nominieren, weil sie raus wollen aus der Opposition. Die Wähler selbst aber haben andere Probleme. Joachim Raschke