Mythos an Schlammschicht

Ein ganz spezielles Gebräu: „Schwarze Sonne“, ein Film von Rüdiger Sünner, dokumentiert Brauch und Mißbrauch nordischer Sagen in der Vergangenheit und heute  ■ Von Klaus Farin

Der Kapitalismus und der Sozialismus erklären ihren moralischen Bankrott. Die blöde Genußsucht hat die Seelen kaltgelassen. In allen Schichten und Kreisen gibt es Menschen, die eine heiße Sehnsucht haben, aus allem Verstandesmäßigem herauszukommen und in eine Unmittelbarkeit hineingestellt zu werden. Sie empfinden die ganze Zivilisation von heute als Kälte und Finsternis.“ Die Folge: Immer mehr Menschen begeben sich auf die Suche nach Erfahrungen jenseits materieller Bedürfnisbefriedigung; Sekten, Psychogruppen und neugermanische Kultgemeinschaften verzeichnen steigenden Zulauf. Doch das obige Zitat, das so genau die gegenwärtige Stimmungslage beschreibt, entnahm Rüdiger Sünner einer völkischen Zeitschrift von 1924.

Schon einmal boomte das Interesse an Okkultem, Esoterik, Mystik und Magie jeglicher Art. Die tibetischen „Reiseberichte“ der Begründerin der Theosophischen Gesellschaft, Helena Petrowna Blavatsky, die rassistischen Ostara-Hefte des Jörg Lanz von Liebenfels oder die Schriften des Runen- und Obeliskenforschers Guido von List wurden zum populären Gesprächsstoff in breiten Kreisen der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. So beschäftigte sich auch der junge Hitler mit „allen ihm erreichbaren esoterischen Gedankenschulen, er las Bücher über Yoga, Astrologie, Hypnose und Telekinese und über allerlei asiatische Geheimlehren“, berichtet E.R. Carmin in seinem Standardwerk zum Thema, „Das schwarze Reich“ (Heyne, 1997). Hitlers späterer Stellvertreter Rudolf Heß studierte im „Orden der Goldenen Dämmerung“ (dessen bekanntestes Mitglied Aleister Crowley war) die Kabbala und die Geheimnisse der Astrologie. Die NSDAP formte Hitler 1920 aus einem Seitenzweig der völkisch-esoterischen Thule-Gesellschaft. Heinrich Himmler unterhielt noch als Reichsführer SS eine eigene Abteilung zur Forschung nach dem Heiligen Gral und anderen nordischen Mythen.

Diese mythologischen Hintergründe, aus denen die Nationalsozialisten ihren rassitischen Weltherrschaftswahn entwickelten, waren noch bis vor wenigen Jahren ein blinder Fleck in der historischen Forschung, spielen noch heute in der antifaschistischen Aufklärungsarbeit nur eine marginale Rolle. Rüdiger Sünner begibt sich mit seiner Dokumentation auf eine historische Reise zu diesen mythologischen Wurzeln der Nazi- Ideologie, er zeigt Denker und Vollstrecker der Nazis und besucht Kultorte wie Stonehenge, die Wewelsburg oder die Externsteine, an denen sich noch heute braune Glaubensbrüder regelmäßig zu Sonnwendfeiern und Aufnahmeritualen sammeln. Aber Rüdiger Sünner trifft dort auch auf langhaarige Freaks, Großstadtflüchtlinge auf der Suche nach spiritueller Erfahrung und Met trinkende Antichristen, die „ihre“ Mythen und Runen von der „Schlammschicht, die die Nazis darübergelegt haben“, zu befreien suchen, wie jene Mitglieder der Berliner „Germanischen Glaubens-Gemeinschaft“ des Exgrünen Geza von Neményi, in der sich (ehemalige) Rechtsextremisten und altlinke Hippie- Ahnen vereinen.

Auch Rüdiger Sünner spricht von einem „Mißbrauch der Mythen“ durch die Nazis. Er erzählt von seiner eigenen Faszination durch das keltische Erbe der Iren und Schotten und schüttet bei seiner Warnung vor den nazistischen Wegbereitern das Kind nicht mit dem Bade aus. „Der Größenwahn der Nazis hat in Deutschland bis heute ein Tabu über große Gefühle, Ideale und Visionen gelegt. Die eigenen Mythen und Traditionen wurden in ein Schattenreich verbannt, und man wähnte sich von ihnen befreit. Aber die Menschen scheinen wieder mehr zu brauchen als gefüllte Kühlschränke und nüchterne Vernunft.“ Dies zu ignorieren oder sogleich paranoid zu reagieren, sobald Bilder und Mythen auftauchen, die die Nazis auch benutzten, bedeutet, die Befriedigung solcher Bedürfnisse rechtsextremen „Artgemeinschaften“ und dubiosen Sekten zu überlassen. „Eine neue Suche nach Heilsangeboten, geistigen Führern und Erleuchtungspfaden ist im Gange. Können wir hier inzwischen besser unterscheiden als die Menschen Anfang des Jahrhunderts?“ Voraussetzung für diesen differenzierten Blick ist zunächst eine genauere Kenntnis über die ideologischen Wurzeln dieser Gruppen und Kulte. Rüdiger Sünners Dokumentation liefert hierzu einen hervorragenden Einstieg.

Ab sofort im Eiszeit-Kino, Termine siehe Cinema-taz