„Sehr individualistisch, clever und produktiv“

■ Peter Grottian, Politologieprofessor an der FU Berlin, hat versucht, Arbeitslose zu organisieren – mit geringem Erfolg. Der Grund: „Erwerbslose halten einen doppelten Mißerfolg nur schwer aus“

taz: 1996 haben Sie das Bundesland „Arbeitslosien“ ausgerufen. Warum ist das Gemeinwesen so schnell zusammengebrochen?

Peter Grottian: Erst mal zur Idee: Mit einem modernen Marketingkonzept luden wir Arbeitslose zu einer Protestversammlung ein. Es wurden Radiospots gesendet und Werbung in der Berliner U-Bahn gemacht. Die Initiative hatten unter anderem Leute aus der Bürgerbewegung der DDR ergriffen.

Es gab damals schon den Arbeitslosenverband. Warum eine neue Organisation?

Wir suchten nach einer eigenständigen politischen Kraft und wollten unsere Forderungen auch mit regelverletzenden Aktionen kombinieren. Damit hat der Verband als einer der größten ABM- Arbeitgeber seine Schwierigkeiten.

Welche Aktionen haben Sie durchgeführt?

Zu der Berliner Protestversammlung im Juni 1996 kamen 200 Leute: Erwerbslose und Erwerbstätige. Bei der offiziellen Jubelparade zum Jahrestag der Vereinigung am 3. Oktober marschierten wir als siebzehntes Bundesland „Arbeitslosien“ mit. Die Aktion kam bei den Zuschauern gut an, obwohl wir Händel mit der Polizei hatten.

Was waren Ihre Forderungen?

Wir verlangten zum Beispiel, zusätzliche Arbeitsplätze auf Kreditbasis einzurichten. Banken sollten ein Jahresgehalt finanzieren: Der Arbeitnehmer nimmt das Geld, um sich selbst eine Stelle zu schaffen. Wir haben auch mit Bankern und Politikern zusammengesessen. Während die Banker grundsätzlich offen waren, bemängelten die Politker, man könne politisch kaum steuern, welche Jobs entstehen würden. Politiker müssen immer steuern.

Haben Sie damals irgendwelche Forderungen durchgesetzt?

Keine.

Sind die Leute deshalb schließlich weggeblieben?

Ich glaube, Arbeitslose spüren, daß sie im normalen Erwerbsleben sowieso schon erfolglos sind. Und wenn sie dann noch in der politischen Arbeit auf Granit beißen, ist der doppelte Mißerfolg nur schwer aushaltbar. Was nicht heißt, daß sie unpolitisch sind.

Wo findet die politische Tätigkeit von Arbeitslosen statt?

In Verkehrsinitiativen, Frauenprojekten, Ökogruppen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, daß der Anteil von Erwerbslosen dort relativ hoch ist.

Erwerbslose nutzen also ihre Zeit, um endlich mal etwas Sinnvolles zu tun – „Bürgerarbeit“, um mit einem Begriff des Soziologen Ulrich Beck zu sprechen?

Manche gehen mit ihrer Situation sehr individualistisch, clever und produktiv um – auch bei der Suche nach anderen Geldquellen. Mit Hilfe der Familie, der Freunde und der Schwarzarbeit zimmern sie sich ein neues Lebensmuster zurecht.

Arbeitslose sind also in Wirklichkeit hochflexible Lebensunternehmer?

Zumindestens stimmt das herrschende Bild nicht. Sie sitzen meist nicht apathisch vor dem Fernseher und trinken Bier.

Ist die Erwerbsarbeit für viele Leute schon gar nicht mehr so wichtig?

Die wenigsten kommen ganz ohne Erwerbsarbeit zurecht. Anders herum: Die Gesellschaft muß lernen, daß andere Formen der Arbeit gebraucht werden. Wir müssen mehr nachdenken, wie man einen kommunitären Sektor zwischen Markt und Staat fördern kann. Interview: Hannes Koch