Angeschwärzte Pillen

Eine Liste mit umstrittenen Medikamenten darf nicht veröffentlicht werden, weil Pharmafirmen die umfangreiche Schwärzung eines Fachbuches durchsetzten  ■ Von Manfred Kriener

Es ist ein wunderbares Buch geworden. Und es liest sich sehr viel schneller als im Vorjahr. Der „Arzneiverordnungsreport 1997“ (AVR) ist das erste jemals in Deutschland erschienene wissenschaftliche Werk, in dem ein komplettes Kapitel, weitere umfangreiche Textstellen, Autorennamen und sogar der Name von einem der beiden Herausgeber mit fetten Balken geschwärzt werden mußten.

Die Zensurmaßnahme wurden von insgesamt siebzehn Pharmafirmen durchgesetzt, die in Einzel- und Sammelklagen gegen die Veröffentlichung vorgegangen waren. Die Pillendreher hatten vor Gericht Erfolg und konnten kurz vor der Auslieferung eine einstweilige Verfügung gegen das vor allem für Ärzte und Krankenkassen wichtige Nachschlagewerk durchsetzen. So erschien der Report vier Wochen später als geplant, just zum Fest der Liebe, und mit schwarzen Balken selbst auf dem Titel. „Verfügungsbeklagte Ausgabe“ steht dort quer über dem Buchdeckel weiß auf schwarz zu lesen.

Die inkriminierten Stellen im Inneren waren jene Passagen, in denen die Herausgeber Ulrich Schwabe und Dieter Paffrath seit Jahren den Wust an umstrittenen, weil unwirksamen Medikamenten auflisten. 44.000 Tabletten, Pülverchen, Pflanzenextrakte und sonstige Mittel sind in Deutschland zugelassen. Etwa ein Drittel, wenn nicht sogar die Hälfte, schätzen Experten, sind nutzlos und für eine Arznei-Therapie ungeeignet. Der Arzneimittelreport hat aber nicht nur die untauglichen Mittel aufgeführt, er hat auch die medikamentösen Alternativen benannt, die bei bestimmten Diagnosen angezeigt sind.

In den vergangenen Jahren war die Liste unbeanstandet geblieben. Diesmal liefen die Hersteller Sturm. Aus gutem Grund: Die Ursache für den plötzlichen Sinneswandel sieht der Heidelberger Pharmakologe und Herausgeber Ulrich Schwabe in der starken Verbreitung seiner Negativbewertung. Tausenden von Ärzten war die Liste aus dem AVR in den letzten Monaten auf den Tisch geflattert – mit freundlicher Empfehlung der kassenärztlichen Vereinigungen. Die hatten den AVR-Auszug an die Niedergelassenen geschickt, um deren Verordnungspraxis zu korrigieren. Um Budgetüberschreitungen zu vermeiden, sollen die Ärzte nicht auf notwendige und gute Arzneien verzichten. Statt dessen sollten sie lieber jenen Unfug weglassen, der oft genauso teuer wie nutzlos ist. Und davon gibt es in Deutschland mehr als genug. Nach Schätzungen Schwabes sind in den letzten 20 Jahren in der Bundesrepublik etwa 120 Milliarden Mark für Medikamente ausgegeben worden, deren Wirksamkeit nicht gesichert ist. Bezahlt haben dies die Krankenversicherten, die inzwischen jährlich 7 Milliarden Mark zu den ausgestellten Rezepten zuzahlen müssen. Fast die Hälfte davon könnte gespart werden, wenn auf untaugliche Mittel verzichtet würde.

Vor den Landgerichten in Hamburg und Düsseldorf hatten die Pharmafirmen argumentiert, daß durch die Mitherausgeberschaft von Dieter Paffrath am AVR – er ist Leiter des wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen – der Eindruck erweckt werde, als stünde die Autorität der Krankenkassen hinter der Arzneimittelbewertung des Reports. Dieser bedeute zugleich einen schweren Eingriff in den freien Markt. Die Richter folgten dieser Auffassung und sahen einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Als Konsequenz hat der Verlag nicht nur die Liste umstrittener Arzneimittel, sondern auch den Namen Paffraths auf dem Buchdeckel getilgt.

Die Schwärzungen im AVR stehen in der Tradition einer langjährigen Blockade für jede Art von Arzneimittelinformation, die sich traut, Mißstände beim Namen zu nennen. Seit Jahren sind alle Versuche gescheitert, eine Positivliste von unbedenklichen und wirksamen Medikamenten oder gar eine Negativliste mit untauglichen Präparaten aufzustellen.

Beim Arzneiverordnungsreport könnte der Schuß allerdings in die falsche Richtung losgehen. Noch nie hat der Verlag ein solch starkes Interesse an dem sonst mit einer Auflage von 6.000 Exemplaren vertriebenen Buch registriert. Die Pressestelle des Stuttgarter Gustav-Fischer-Verlags wird seit der spektakulären Schwärzung mit Anfragen überhäuft. Herausgeber Schwabe freut sich über die kostenlose Reklame und ist sicher, daß die Lücken in dem seit 13 Jahren erscheinenden Report „mehr nutzen als schaden“. Wer sich informieren möchte, was hinter den schwarzen Balken steht, der kann den 96er AVR zur Hand nehmen. Dort findet er auf den Seiten 13 ff. im Unterkapitel „umstrittene Arzneimittel-Gruppen“ fast unverändert dieselbe Aufstellung.

Der Rechtsstreit um den Arzneiverordnungsreport ist indes noch lange nicht beendet. Der Gustav-Fischer-Verlag will in den nächsten Instanzen eine Korrektur der Zensurmaßnahmen erreichen.

Ulrich Schwabe (Hrsg.): „Arzneiverordnungsreport 1997“, Gustav- Fischer-Verlag, Stuttgart, 760 S., davon rund 40 geschwärzt, 58 DM