Eine späte Quittung für RWE

■ Es war von Anfang an eine katastrophale Standortwahl. Das gestrige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bescherte dem schon vor zehn Jahren stillgelegten AKW Mülheim-Kärlich das vermutlich endgültige Aus Aus Be

Eine späte Quittung für RWE

Nein, die Glocken wollte Manfred Scherrer zu Hause nicht läuten lassen. „Aber ein solches Gefühl schwingt schon mit“, bekannte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der Stadt Neuwied. Noch eine Stunde nach dem Sieg auf der ganzen Linie schwebten die Kläger gegen das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich auf Wolke sieben. Joachim Scheer, Atomkraftgegner der ersten Stunde, beschwor die historische Dimension der über zwanzigjährigen Auseinandersetzung, die nun vor dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin geendet habe mit einem Urteil „für die gesamte Bevölkerung“.

Niemand wollte sich ernsthaft mit dem Gedanken befassen, daß die Stromherren der RWE Energie AG in Essen trotz der „bitteren und unvermuteten Niederlage“ (RWE-Justitiar Anreas Böwing) noch einen neuen, dritten Anlauf nehmen könnten, den 1.300-Megawatt-Meiler mit jahrzehntelanger Verspätung noch einmal ans Netz zu bringen. Und in der Tat: Besonders kampfeslustig verließen die Vertreter des Stromriesen den Ort ihrer Schmach nicht.

Immerhin, auch für den Fall der totalen Niederlage hatten sie eine Erklärung vorbereitet: Vorstandsmitglied Hlubek jammerte über die „folgenschwere Niederlage für den Standort Deutschland“, drohe doch ein „technisch einwandfreies Projekt an ausschließlich formalen Hürden zu scheitern“.

Doch genau so war es nicht. Denn den Garaus machten dem in den 60er Jahren konzipierten, in den 70er und 80er Jahren errichteten und nur ein knappes Jahr betriebenen Reaktor tatsächliche Sicherheitsbedenken, genauer: eine von Anfang an katastrophale Standortwahl. Schon 1988 hatte das Bundesverwaltungsgericht die erste Genehmigung nicht etwa aus „formalen Gründen“ kassiert, sondern weil es die damalige Landesregierung (unter Helmut Kohl) in Einvernehmen mit den Essener Stromherren versäumt hatte, ein rechtswidrig ohne Beteiligung der Öffentlichkeit geändertes Reaktorkonzept auf seine Standorttauglichkeit zu überprüfen. Das müsse, erläuterte seinerzeit der Gerichtsvorsitzende das beklagte „Ermittlungs- und Bewertungsdefizit“, nun „im Grunde erstmalig“ nachgeholt werden.

Wurde es aber nicht. Jedenfalls verzichtete das unionsgeführte Umweltministerium nach dem Spruch von 1988 vollständig auf die Erhebung neuer Daten, kümmerte sich auch nicht weiter darum, daß inzwischen erweiterte Erkenntnisse über die Erdbebengefahr im Neuwieder Becken und die möglichen Rückwirkungen des „Eifelvulkanismus“ auf die Kraftwerksanlage vorlagen. 1990 erteilte die christlich-liberale Koalition in Mainz deshalb erneut eine Genehmigung, die sich auf schwankendem Grund bewegte.

RWE erreichte zwar zweimal die Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht. Doch inhaltlich wollte der Konzern nicht das Geringste zur Aufhellung der Situation beitragen. Während die Gegner und ihre Anwälte Gutachten anschleppten, sich selbst auf Recherchetour in die Archive begaben und so allmählich zu Erdbebenexperten heranwuchsen, taten die RWE-Vertreter innerhalb und außerhalb des Gerichts so, als ginge sie das alles nichts an.

Mit vermutlich endgültigen Konsequenzen. Denn das Bundesverwaltungsgericht hielt RWE als Revisionskläger vor, „Mängel des gerichtlichen Verfahrens nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise gerügt zu haben“. Im Klartext: Wer nicht argumentiert, darf sich nicht wundern, wenn gegen ihn entschieden wird. Deshalb, so die Berliner Richter, sei nur zu überprüfen gewesen, ob das Oberverwaltungsgericht als Tatsacheninstanz die bundesrechtlichen Vorschriften eingehalten habe. Das habe es bezüglich der Hauptkläger getan. Insbesondere seien die Argumente, die die Zweifel der Vorinstanz an dem größten anzunehmenden Erdbeben am Standort begründeten, nicht zu beanstanden. Die „behördliche Sicherheitsanalyse“ genüge deshalb nicht mal den eigenen, selbstgewählten Maßstäben.

Heilbar, so das Gericht, seien die Fehler allenfalls im Rahmen einer Neuauflage der Genehmigung „unter Beachtung der gerichtlichen Entscheidungen“. Das wird dauern und nicht zuletzt davon abhängen, ob RWE den Genehmigungsantrag aufrechterhält. Dazu gab es aus der Konzernzentrale gestern keine defintiven Antworten. Die Herren leckten Wunden.