Und der Streit geht munter weiter

In Berlin trafen sich ehemalige DDR-Bürgerrechtler, um über die Folgen der Verhaftungen während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17.Januar 1988 zu diskutieren  ■ Von Patrik Schwarz und Christian Semler

Ob Reinhard Schult wohl geahnt hat, als er diesen einen Satz schrieb, damals im Frühjahr 88, daß er damit noch zehn Jahre später manchem seiner Weggefährten die Zornesröte ins Gesicht treiben würde? Es hätte ihn wohl kaum abgehalten.

Jedenfalls will Schult, einer der Mitbegründer der DDR-Bürgerbewegung Neues Forum, den Satz auch an diesem Samstag nachmittag nicht zurücknehmen. „Gewogen und für zu leicht befunden“, urteilte er 1988 über mehrere Bürgerrechtler, weil sie eingewilligt hatten, sich aus der Stasihaft in den Westen abschieben zu lassen. Ein Tritt in die Kniekehlen der Demokratiebewegung sei ihre Entscheidung für die Ausreise gewesen, ohne die der Wende-Herbst von 1989 schon im Frühjahr 88 hätte beginnen können, legt er nach. „Du warst ein Spalter und du bist ein Spalter geblieben!“ ruft ihm eine erregte Vera Lengsfeld über das Podium zu. Durchsichtig genug sei sein Motiv, „du willst den Abfall in die eigene politische Bedeutungslosigkeit...“ Der Rest des Satzes geht im Tumult des Saals unter.

Eigentlich sind sie alle Sieger der Geschichte, die sie sich hier für ein paar Stunden wieder zusammengesetzt haben. DDR-Regimegegner allesamt – doch Zwist, nicht Freude bestimmt die Begegnung. Die Konfliktlinien von 88 bestimmen auch 98 die Auseinandersetzung: Da sind einerseits Schult und Klaus Wolfram, die in der DDR geblieben waren, sowie andererseits die „Ausgereisten“, darunter Wolfgang Templin, der Liedermacher Stephan Krawczyk und die heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld, die damals Wollenberger hieß. Im Gemeindesaal der Berliner Samaritergemeinde, wo sich einst unter Pfarrer Rainer Eppelmann ein Teil der DDR-Bürgerbewegung sammelte, wollten sie rekonstruieren, was 1988 eigentlich geschah.

Am 17. Januar hatten mehrere Bürgerrechtler auf der staatlichen Kundgebung zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Plakate mit dem Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ hochgehalten. Die Verhaftung der Demonstranten sei der Anfang vom Ende der DDR gewesen, meint der Historiker Hubertus Knabe in seiner Einführung, daran habe die Abschiebung der Dissidenten nichts geändert. Wolfgang Templin sieht in den Vorwürfen von Reinhard Schult, die Abgeschobenen hätten zu schnell kleinbeigegeben, „einen Anspruch von Politik, der auch ein Stück unmenschlich ist, ein bißchen aus der alten Welt stammt“. Schließlich habe gerade die DDR die Politik über den Menschen gestellt. Im übrigen, ergänzt Vera Lengsfeld, möge man bitte nicht vergessen, daß ihre Anwälte den Inhaftierten suggeriert hätten, nur der Weg in den Westen führe in die Freiheit. Erst heute wisse man, wem die Verteidiger sich in Wahrheit verpflichtet hatten – der Stasi.

Wem gehört die DDR-Bürgerbewegung? Unter diesem pathetisch-albernen Titel versammelte ein Spiegel-Forum am Samstag abend eine Reihe von Berühmtheiten der Vor- und Nachwendezeit in der Samariterkirche. Darüber stritt das Podium, und dieser Streit ist alles andere als neu. Mittlerweile scheinen Diskussionen dieser Art dem Commedia-dell'arte-Repertoire entnommen. Aber das Publikum lechzt nach dem Immergleichen, Helden, Bösewichtern und Spaßmachern. Es will, zumal im gußeisern linken Milieu, den Verrat geißeln, die Zeitläufte beklagen und die müden Helden zur Aktion aufrufen.

Den Harlekin gab diemal Peter- Michael Diestel. Nach eigenen Angaben ging er zur Zeit der Liebknecht-Luxemburg-Aktion der Demokraten bienenfleißig seinem Beruf nach, zahlte Steuern und betete oft und heftig. Diestel sieht sich heute als Nachfahr der Bürgerbewegung, schließlich führt er für die PDS eine Verfassungsklage wg. Lauschangriff. Die Bösewichtin spielte Vera Lengsfeld zum Entzücken der 1000köpfigen Menge. Sie dichtete entschlossen die DDR-Opposition zu einer antitotalitären Bewegung um und bestand darauf, daß ihr der Krieg in Bosnien-Herzegowina die Augen über die positive Funktion der NATO geöffnet habe. Deshalb sei sie für den Eurofighter, denn wennschon dennschon. Reinhard Schult glänzte als Rächer der Enterbten außer Dienst. Die Bürgerbewegung sei mindestens kapitalismuskritisch gewesen. Heute lebten wir ökonomisch wie politisch in einer „existenziellen Krise“, aber die vormals Protestierenden seien in den Amtssesseln des bürgerlichen Staates zusammengesackt, Wohlleben hindere sie daran, das Elend der Welt auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Wolfgang Thierse war in der Rolle des unglücklichen Vermittlers zwischen dem parlamentarischen Kampf und den Aspirationen der „Basis“ auf Selbstorganisation zu sehen. Nichts, bemerkte er treffend, ist billiger als die Verachtung des parlamentarischen Kärrners. Da er nun mal für die Zustimmung der SPD-Mehheit zum Großen Lauschangriff stand, wurde er haftbar gemacht für den „Sündenfall“ der SPD (Moderator Aust, der diesen Begriff benutzte, war entgangen, daß der Sündenfall nur einmal passieren kann. Der der SPD ereignete sich bekanntlich 1914). Schließlich Jens Reich. Dr. Eisenbarth analysierte gewohnt allseitig Geschichte wie Gegenwart und vergaß auch nicht hinzuzufügen, daß er das gegenwärtige System der Parteienoligarchie für funktionsuntüchtig hält. Merkwürdig und für das Publikum irritierend nur seine Schlußfolgerung, daß er sich wegen dieses Umstands entschlossen habe, zu seiner Forschungstätigkeit zurückzukehren. Nichts bewegte sich an diesem Abend, keiner der Protagonisten wechselte den Stuhl. Eigentlich schade, denn immer noch gilt: Historia magistra vitae.