Rettung a la Hollywood

■ Die Titanic sank – aber nicht die Moral: Während das Publikum an den Gentleman-Tod zugunsten der Frau glaubt, zweifeln Historiker

„Frauen und Kinder zuerst in die Boote.“Dieser Ruf der Schiffsoffiziere auf der legendären Titanic schallt dieser Tage im Dolby-Surround-Stereo-Sound eindringlich durch Bremer Kinos. Zugleich läßt Filmemacher James Cameron wenig Zweifel daran, daß dem auch Folge geleistet wurde. Aus den Rettungsbooten, die um den sinkenden Atlantik-Cruiser dümpeln, starren angstvoll Frauen- und Kinderaugen empor in die Kamera, während nur einzelne Männer – von zumeist bösem Filmcharakter – oben, an Bord des sinkenden Ozeanriesen, alle Register bis hin zum Geldbeutel ziehen, um doch noch einen der viel zu wenigen Plätze in den Rettungsbooten zu ergattern.

Der Mythos vom heldenhaften Tod der Gentlemen zugunsten von Frauen und Kindern im Jahr der Schiffskatastrophe 1912 wird durch den Ausgang der Hollywood-Inszenierung noch bestärkt: Nach 180 Filmminuten hängt der Filmheld, der junge Dritte-Klasse-Passagier Jack a la Teenie-Star Leonardo DiCaprio erfroren an dem behelfsmäßigen Floß, auf dem seine bildhübsche Upper-class-Geliebte Rose (Kate Winslet) überlebt. Hier ist er wieder, der Mann als Retter. Kurios, daß es einer aus der dritten „billigen“Klasse ist, in der die Männer zu 90 Prozent und über die Hälfte der Frauen starben. Dennoch: Nur wegen Jack konnte Rose überlebten. Denn nachdem das Behelfs-Floß ein erstes Mal umgekippt war, als die beiden Verliebten sich gemeinsam darauf retten wollten, bleibt Jack, um Rose nicht zu gefährden, im eiskalten Wasser – und stirbt. Als Rose dies erkennt, brechen im Kino alle Dämme. Schon wieder endet der Traum von der klassenlosen Liebe mit dem Tod eines Protagonisten. Der einzige Trost: Daß Jack starb, war nicht sinnlos. Zeigt sein Tod doch die Größe männlicher Liebe – quasi analog zur Länge der Warteschlange vor der Damentoilette. „Zum Make-Up-Auffrischen nach dem Weinen“, erklärt die 13jährige Lisa Willmann. „Weil das so traurig ist, als Jack stirbt.“Wie die beiden 14jährigen Freundinnen Sara und Sara und unzählige andere Bremer Kinogängerinnen glaubt sie, daß Frauen – wie im Film – auch tatsächlich bevorzugt gerettet wurden. Nur Birgit Nolte, Ticketverkäuferin im „Filmpalast“unterscheidet: „Vor allem die Frauen in der ersten Klasse überlebten.“Mareike Marcus und Katharina Slotter, beide 14, sind hingegen unsicher: „Unsere Englischlehrerin hat das auch schon gefragt.“Seitdem grübeln sie über die Wahrheit.

Auf die Frage nach dem Heldentod des Gentleman zur See reagiert auch der schwedische Titanic-Forscher Claes Göran Wetterholm nachdenklich. Er führt für die Voyager Titanic Exhibition GmbH seit einem dreiviertel Jahr durch die Ausstellung „Expedition Titanic“in Hamburg und weiß: Von den 2.224 Personen an Bord der Titanic überlebten 711; relativ gesehen war die Zahl der überlebenden Frauen dabei hoch: 74 Prozent der 425 Frauen überlebten; von den 1.690 Männern waren es dagegen nur 20 Prozent. Dennoch schnitt das starke Geschlecht beim Kampf um den Sitzplatz im Rettungsboot – entgegen dem Ehrenkodex – nicht so schlecht ab, wie der Film glauben läßt. Den Untergang überlebten 338 Männer und 316 Frauen.

Die Tatsache, daß jede zweite Person in einem Rettungsboot männlich war, beschäftigte später sogar eine Untersuchungskommission in den USA. „Diese Zahl schien den Kommissaren ungeheuerlich“, berichtet Titanic-Forscher Wetterholm, „immerhin starb von den weiblichen Passagieren der Dritten Klasse jede zweite Frau.“Als Indiz dafür, wie ungläubig die Mitglieder des Untersuchungsausschusses darauf reagierten, daß der Ehrenkodex „Frauen zuerst“in eklatantem Maß verletzt worden war, wertet er deren Reaktionen auf die Zeugenaussage eines männlichen Crewmitgliedes.

Der Mann hatte im letzten der offiziell verfügbaren Rettungsboote gesessen – und später angegeben, daß unter den 60 Personen im Boot kaum Frauen gewesen seien. Im weiteren Verlauf wurde der Zeuge, der angab, nach dem Unglück unter Schlaflosigkeit zu leiden, als wenig verläßlich bezeichnet. Dabei habe er nach heutigen Erkenntnissen die Wahrheit gesagt, weiß Claes Göran Wetterholm: „Auf Boot 15 gab es 61 Passagiere. Davon 45 Männer, der Rest Frauen und Kinder.“Er weiß auch von einem anderen Versuch, den verzweifelten Kampf der Männer ums Überleben zu vertuschen: „Als die Kommission die überlebenden Männer befragte, wie sie überlebt haben, sagten viele, sie seien von Bord gesprungen und zu einem der teilweise nicht vollbesetzten Rettungsboote geschwommen.“

Diese Art der Ehrenrettung versuchten nach Wetterholms Kenntnis rund 100 Männer. Vergeblich. Die Befragung der Bootsbesatzungen, die zumeist aus Mitgliedern der Titanic-Schiffsmannschaft bestand, ergab ein völlig anderes Bild: „Die haben nur zehn solcher Fälle insgesamt gezählt“, sagt Wetterholm.

Auch die böse Vermutung, daß vor allem deshalb so viele Frauen Platz in den Rettungsbooten fanden, weil die Gefahr des Sinkens auf der Titanic völlig unterschätzt wurde, weist er nicht von der Hand. Sofort fällt ihm die Aussage einer Überlebenden ein: „Sie berichtete, daß sie sich zuerst geweigert hatte, in eines der letzten Rettungsboote zu steigen. Erst als ihr Mann sie drängte, willigte sie schließlich ein. Bevor sie einstieg, gab sie ihm aber noch das ganze Geld, das die beiden aus der Kabine an Deck geholt hatten“– als sei er an Deck der Titanic in größerer Sicherheit als sie im wackeligen Ruderboot. Eva Rhode

Die Ausstellung „Expedition Titanic“in der Speicherstadt, Hamburg, Kehrwieder 2-3, läuft bis Ende März. Infos unter