Verwickelt ins nackte Leben

■ Bosnische Waisen an Englands Küste und andere Folgen des Krieges: „I Want You“ von Michael Winterbottom erzählt von der ziemlich grausamen Geschichte eines Verbrechens

Michael Witterbottom ist ein recht gut aussehender Mann von sechsunddreißig Jahren, immer ein bißchen schmunzelnd, enorm ruhig, der nicht allzu viel verrät, wenn er etwas gefragt wird. Schon vor drei Jahren, als er mit „Butterfly Kiss“ auf der Berlinale im Wettbewerb war, erwischte ich mich während der Pressekonferenz bei dem Gedanken, daß Winterbottom bestimmt ein sehr guter Ehemann sei. Das sind die auratischen Verirrungen, die eine Berlinale hervorbringt; sehr merkwürdig.

Tatsächlich haben seine Filme mit dem Modethema Ehe überhaupt nichts zu tun. „I Want You“ ist eine raffinierte Geschichte über zwei Frauen in einem kleinen englischen Küstenort, wo die großen Tage der Fischerei vorbei sind und der Tourismus keine große Rolle spielt. Helen, eine Friseuse, lebt in dem spukigen Holzhaus, das ihr Vater ihr hinterlassen hat; Smokey haust mit ihrem kleinen Bruder in einer Hütte, ist dem bosnischen Krieg entkommen, und erprobt sich mit hauchendem Gesang und mit blond gefärbtem Mecki in einer lokalen Popband.

So gibt es einen Musikclub im Hafen, den innenstädtischen Friseursalon mit seinem großen Fenster zur Straße, den Strand und ein Versteck in einem alten Kutter. Der Film ist über weite Strecken kalt- oder warmtonig gefiltert und arbeitet bisweilen mit subjektiver Kamera, wenn zum Beispiel ein Dauerläufer durch seinen auf den Boden gerichteten Blick gezeigt wird. Visuell sehr dramatisch erscheint die Phase, in der ihm die Puste ausgeht und er langsamer wird. Wie bei „Butterfly Kiss“ hatte ich auch hier den Eindruck, als sei das Format geringfügig in die Breite gezogen. Winterbottom ist ziemlich raffiniert in der Schichtung und Umschichtung von Horizontalen.

Der Dauerläufer ist Honda, vierzehn Jahre alt, Smokeys Bruder. Er spricht nicht. Er hat eine Obsession: Mit einem Richtmikrophon belauscht er die Liebenden, angefangen mit seiner promisken Schwester im Nebenzimmer und als nächstes Helen, die sich immer wieder in verfängliche Situationen begibt und dann unter Mühen ihre Lover zurückweist. Sein sexueller Voyeurismus führt Honda ins nackte Leben. Er wird verwickelt.

Ein Mann ist im Ort aufgetaucht, Martin, der Helen auf eine abrupte Weise begehrt; die Versuche von Smokey, ihn ins Bett zu zerren, scheitern. Honda rekonstruiert, daß Martin lange im Gefängnis war, weil er Helens Vater ermordet habe; im Streit erschlagen, heißt es an anderer Stelle; nicht er, Helen sei die wirkliche Täterin, sagt Martin am Ende, kurz bevor er stirbt.

Sehr geschickt kreuzt der Film die Geschichte eines Verbrechens in der zivilen Gesellschaft mit den Geschichten der bosnischen Waisen, in deren Erinnerung diese Grausamkeiten relativ sind. Etliche der psychischen Schübe des Films sind über Sexszenen kodiert, die mit der gleichen Promptheit gezeigt werden wie das Haareschneiden oder das Leben der Fische in einem Riesenaquarium. Wenn der Film überhaupt metaphorisch wird, dann in bezug auf das Wasser. Vor allem schöpft die Kamera das Ambiente voll aus, ohne daß der Schnitt mit dem Material zu gnädig wäre. Die Schauspieler bieten sich auf angenehme Weise die Stirn: eine echte Ensembleleistung ohne Schwächen.

Man spürt sehr deutlich den Eigenwillen einer wohl nicht sehr großen, aber natürlich vollkommen professionellen Produktion. Die Situation der Waisen erinnert an den „Zementgarten“, die Revox-Maschine an „Diva“. Allerdings fehlt Winterbottom die morbide Romantik dieser Fabeln. Zwar ist „I Want You“ nicht so gnadenlos wie „Butterfly Kiss“ und weniger fetischistisch. Es ist ein Film, den man vielleicht nicht zweimal sehen würde, weil der Schrecken trotz (oder wegen) der falschen Farben seine Fühler nach einem ausstreckt. Zweifellos ist Michael Winterbottom im neuen britischen Kino ein Stilist von großem Willen; ob er nun verheiratet ist oder nicht. Ulf Erdmann Ziegler

Wettbewerb: heute, 20 Uhr, International