Das unbedingte Wahrheitsgefühl

Steven Spielberg plädiert auch in seinem neuen Film „Amistad“ für die Emotionen und gegen die Aktenlage. Für sein Anliegen glaubt er im historischen Drama um ein Sklavenschiff den rechten Stoff zu haben  ■ Von Stefan Heidenreich

„Amistad“ ist der Name eines spanischen Sklavenschiffs, das 1839 vor Long Island von einem amerikanischen Kriegsschiff aufgebracht wurde. Die Afrikaner hatten sich befreit und die Besatzung gefangengenommen. Sie werden verhaftet, ein Gericht soll klären, ob sie Eigentum des Schiffskapitäns oder des Königreichs Spanien sind oder ob sie als freie Menschen gelten. Der Fall geht durch drei Instanzen bis vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Der Streit dreht sich im Kern um die Wertung von Akten und mündlichem Bericht. Frei kommen die Schwarzen nur, wenn es gelingt, ihre Herkunft aus Afrika nachzuweisen. Nun kennt aber der schwarze Kontinent keine Akten, und vor Gericht haben die Afrikaner nichts vorzuweisen als sich selbst. Um ihr Recht gegen die gefälschten Papiere des Kapitäns durchzusetzen, nach denen sie auf Kuba geboren, und also Sklaven sind, müssen sie sprechen. Wie nun vor Gericht die Macht der erzählten Geschichten über die geschriebenen Akten ausgefochten wird, das ist der eigentliche Plot.

Damit berührt der Film eine Frage, die nicht allein Spielberg seit geraumer Zeit beschäftigt: Woran erweist sich die Wahrheit eines Ereignisses, an den Augenzeugen oder an der Aktenlage? In welchem Medium teilt sich diese Wahrheit mit, in der Schrift, in der Erzählung oder im Film? Spielberg schlägt sich ganz auf die Seite der erzählten Geschichten. Rhetorische Überzeugungskraft kämpft vor der Kamera im Namen von Wahrheit und Freiheit nieder, was auf dem Papier geschrieben steht.

Daß er den Film als das ultimative Speichermedium von Geschichten und Geschichte ansieht, hat Spielberg vor allem mit seinem Projekt der „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ unter Beweis gestellt. 50.000 Videointerviews mit den Überlebenden des Naziterrors wurden dort mittlerweile archiviert. Die Geschichten der Augenzeugen sind das Gegenmodell zum Abarbeiten der Aktenberge, für das Forscher wie Raoul Hilberg stehen. Seit „Jurassic Park“ nisten die Filme von Spielberg an dem Übergang von Daten in Geschichten, seien es die Daten einer urzeitlichen Gen-Sequenz oder die Daten des neuzeitlichen Massenverbrechens in Schindlers Liste.

„Amistad“ feiert ein Plädoyer für die Wahrheit der Gefühle im Medium des Films. Dabei gerät Spielberg in ein Dilemma, das schon die antike Rhetorik erkannt hat. Er ersetzt Wahrheit durch Überzeugungskraft. Diese Ersetzung hat schon Platon angegriffen, nicht von ungefähr der erste schreibende Philosoph. Spielberg verteidigt die sophistische Gefühlsrhetorik und mutet sich dabei als Regisseur eine heikle Aufgabe zu. Wenn die Wahrheit des Falls zu einer Frage des Gefühls wird, entscheidet die Regie der Emotionen, was wahr ist.

Spielberg verfügt über die Mittel einer solchen Regie. Er setzt eine ausgeklügelte Emotionsmaschine in Bewegung, die noch den letzten Seitenblick kalkuliert. Alles an diesem Film ist darauf optimiert, die Bilder in Gefühlen zu baden, deren Material die genau bemessenen Gesten, plötzlichen Bewegungen und Pausen sind, wie auch der gezielte Schock. Die Perfektion dieser Gefühlsmaschine ist erstaunlich, selbst wenn sie unter dem überspannten Soundtrack bisweilen zusammenbricht. Sie macht die Schauspieler zu Statisten, deren letzte Regung noch zerstückelt wird, um in die Choreographie der Emotionen zu passen.

Selbstverständlich führt das Wahrheitsgefühl zum Happy-End. Es mußte so kommen – und dennoch ist ein anderer Ausgang denkbar. Denn mit den gleichen filmischen Mitteln hätte Spielberg ebensogut die Gegenseite vertreten können, Rassismus statt PC. Wie gut gefilmte Geschichten lügen können, hat der Filmklassiker „Rashomon“ von Akira Kurosawa gezeigt. Fünf unterschiedliche Erzählungen desselben Ereignisses, eine so wahr wie die andere, schieben ein und denselben Mord jeweils einem anderen Täter zu.

Aber Spielberg glaubt an die Wahrhaftigkeit der Bilder und versucht, sie mit einer sehr schönen fotografischen Urszene zu untermauern. Der Präsident der USA, Martin van Buren, läßt sich vor der letzten Verhandlung fotografieren. Man sieht, wie er seinen Kragen zurechtrückt, auf dem Stuhl Platz nimmt und seinen Kopf gegen eine Stütze lehnt. Spielbergs Filmkamera zeigt den Blick durch die Linse des Fotoapparats. Aber er hat sich in der Augenzeugenschaft der Kamera vertan. Das Urteil im Fall Amistad wurde im Januar 1841 gefällt. Die früheste Daguerreotypie des Präsidenten van Buren datiert aus dem Jahr 1844.

„Amistad“. Regie: Steven Spielberg. Drehbuch: David Franzoni. Mit Djimon Hounsou, Anthony Hopkins, Matthew McConaughey. USA 1997, 152 Min.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1841 ist nachzulesen unter der Internet-Adresse http://caselaw.findlaw.com/ amistad.html