Jusos stinken gegen Schröders Beliebigkeit an

■ Parteinachwuchs will „echte Alternative“ im Regierungsprogramm der SPD erkennbar machen

Bonn (taz) – Juso-Chefin Andrea Nahles fühlt sich ein bißchen wie der letzte Mohikaner. Nach der Kandidatenkür Gerhard Schröders hat sich die Partei Jubelstimmung verordnet. „Der Konformitätsdruck ist so groß“, sagt Andrea Nahles, die auch im 45köpfigen Parteivorstand sitzt, daß jeder als „Nestbeschmutzer“ dastehe, der sage, er wolle nach 16 Jahren Kohl eine andere Politik.

„Alle machen mich jetzt an, weil ich etwas gegen die SPD sage“, empört sie sich. Aber die Selbstverleugnung dürfe schließlich nicht so weit gehen, daß man tatenlos zusehe, wie die SPD ins Beliebige abrutsche. Um das zu verhindern, hielten die Jusos gestern eine Pressekonferenz ab, in der sie gegen das Regierungsprogramm der SPD loslederten – aber schlechtes Gewissen war doch dabei. Als Rechtfertigung stellte Andrea Nahles voran, daß die meisten Vorstandsmitglieder das Regierungsprogramm der SPD aus der Zeitung erfahren hätten. Darüber seien einige „wirklich aufgebracht“. Da dürfe man auch über die Öffentlichkeit Kritik üben.

Zusammen mit Parteivorstandsmitglied Benjamin Mikfeld verurteilte sie das Parteiprogramm als „Fisch ohne Gräten“ und „vorsichtig bis zur Floskelhaftigkeit“. Sie kritisierte, die SPD bringe nicht den Mut auf, sich als echte Alternative zu präsentieren. Die von der SPD geplanten Maßnahmen seien angesichts leerer Kassen „obsolet“, weil sie unter einem strikten Finanzierungsvorbehalt stünden. Die SPD müsse statt dessen Investitionsprogramme anschieben, wie es auch auf dem Hannoveraner Parteitag beschlossen worden sei. Das Geld dafür sei teils durch Neuverschuldung, teils durch höhere Steuereinnahmen zu beschaffen. „Wenn sich nichts ändert“, drohte Andrea Nahles, „stimmen wir gegen das Regierungsprogramm.“ So deutlich hat lange kein SPD-Mitglied mehr die eigene Partei kritisiert.

Beim Treffen der Parteilinken am Wochenende in Berlin hatte es vornehmlich Treueschwüre für den neuen Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder gegeben. Heidemarie Wieczorek-Zeul gab die Linie vor, indem sie sagte, ein Wahlsieg Schröders sei „die einzige Chance, durchzusetzen, was wir wollen“. Also bitte keine Demontage des Kanzlerkandidaten. Ein Ausreißer war die Prophezeihung von Konrad Gilges, bei einem Kanzler Schröder werde es Konflikte geben, „die weit über das hinausgehen, was wir mit Helmut Schmidt hatten“.

Die Sachlichkeit des linken Frankfurter Kreises zahlte sich offenbar aus. Einige Kritikpunkte sollen im Programm berücksichtigt werden. Sicher scheint, daß eine Passage eingeflochten wird, in der sich die SPD für „flexible und kürzere Arbeitszeiten“ ausspricht. Außerdem soll eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung Bafög im Wahlprogramm zugesagt werden. Ein Präsidiumsmitglied lobte: Man habe Schröder „selten so kooperativ“ erlebt.

Die Jusos aber wollen mehr. Die SPD verzichte zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf das Ziel der Vollbeschäftigung, wetterte Andrea Nahles. Insofern sei die SPD wenigstens konsequent, spottete sie, weil die angepeilten Maßnahmen ohnehin nicht ausreichten. Mehr als 500.000 neue Arbeitsplätze seien nicht drin. Die Jusos befürworten ein Investitionsprogramm in Höhe von etwa 40 Milliarden Mark. Einer Studie des DIW zufolge führe das zu 500.000 neuen Arbeitsplätzen. Dabei sei es egal, ob die Mittel in Umweltsanierung, Wohnungsbau oder Solarenergie gesteckt würden.

Benjamin Mickfeld geht nicht davon aus, daß sich der Kurs der SPD noch nennenswert ändert. Es werde sicher noch einiges alibimäßig hineingeschrieben, aber meistens entspreche die Politik dem Vorentwurf. Wenigstens mit dieser Einschätzung sind sich die Jusos mit der Parteiführung einig. Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering sagte gestern, nach seiner Überzeugung werde das Wahlprogramm „ohne markante Veränderungen“ verabschiedet. Markus Franz