Die Regeln der Liebe

Das Schicksal heißt Judith: Meir Shalevs wunderbarer Roman über ein Dorf in der Nähe Haifas, eine unwiderstehliche Melkerin, ihren Sohn Sejde und seine drei Väter  ■ Von Anita Kugler

Einer kommt, einer geht, einer stirbt, und einer bleibt zurück. „So sieht das Ende jeder Liebe aus“, erzählt Jakob Scheinfeld dem Kind mit dem merkwürdigen Namen Sejde, was „Großvater“ heißt und Weisheit bedeuten kann. Aber das ist natürlich überhaupt nicht das Ende der Liebe, denn erstens ist Jakob kein Verstandesmensch, sondern ein poetischer Träumer und ausufernder Geschichtenerzähler, zweitens ist Jakobs Liebe zu Judith unendlich, und drittens hat die Geschichte Meir Shalev geschrieben, selbst ein großer Verführer und Märchenerzähler, wie es im modernen Israel keinen zweiten gibt. „Judiths Liebe“ heißt sein (sehr gut übersetzter) neuer Roman, und er ist so herzrührend, komisch, traurig und lebensklug, daß man ihn allen Ver- und Entliebten sofort schenken möchte.

Auf 390 Seiten geht es nur um die Liebe und um die Frage, ob man sie erklären kann, und wenn ja, warum nicht. Jakob, der Phantast, der mit offenen Augen sich blind in die Liebe stürzte, glaubt, daß sie einer Ordnung unterliegt, daß es Regeln und Gebote gibt, daß sie keine Herzens-, sondern eine Verstandessache ist: „Man muß einfach entscheiden – jetzt ist Liebe.“ Wenn man sich entschieden hat, strengt man sich sehr an, zurückgeliebt zu werden, aber sollte es dennoch nicht passieren, ist es zwar traurig, aber letzendlich unerheblich. „Bei der großen Liebe gibt immer nur einer alles. Und immer geht rein gar nichts verloren“, wird er am Ende seines Lebens wissen.

Die Geschichte mit Judith beginnt 1932 in einem kleinen Dorf in der Jesreel-Ebene bei Haifa. Der Witwer Mosche Rabinowitz hat sie geholt, damit sie ihm die Kühe melkt und sich um seine Kinder kümmert. Judith ist weder besonders jung noch besonders schön, auf dem linken Ohr ist sie taub, und Männer mag sie schon gar nicht, nachdem sie einer verlassen hat. Sie zieht in den Stall, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, aber in der Nacht schreit sie wie ein Tier. Als Jakob Scheinfeld sie zum erstenmal sieht, gerät sein Leben aus den Fugen, und um es zusammenzukitten, erfindet er absonderliche Werbungsregeln und Liebesgesetze, die, einmal aufgestellt und Schritt für Schritt erfüllt, das Schicksal bezwingen sollen. In seinem Fall heißt das Schicksal Judith, die von Regeln überhaupt nichts hält und ihn und all seine Anstrengungen schlicht ignoriert. „A nafka mina“, sagt sie immer, was macht das schon!

Aber Jakob ist nicht der einzige Mann im Dorf, der Judith liebt, das macht die Sache noch komplizierter. Da gibt es auch den schlauen Viehhändler Globermann, der ihr schöne Geschenke bringt und ein Frauenheld ist. Und es gibt den bärenstarken Rabinowitz, der Judith einen gepflasterten Weg von ihrem Stall zu seinem Haus baut. Aber Judith mag auch keine Symbole, und den siegesgewissen Viehhändler, den haßt sie gar. Sie liebt nur Mosches Tochter Naomi und eine Kuh, die keine ist, ein Zwitterwesen, das niemals kalben wird.

Wäre diese Kuh nicht an Globermann verkauft worden, wäre Sejdele, der später niemals eine Frau berühren wird, nicht geboren worden. Wer der Vater ist, bleibt das Geheimnis Judiths. Ist es Globermann, von dem Judith sich die Kuh zurückgeholt hatte, oder ist es Rabinowitz oder Jakob, die in dieser Nacht beide glaubten, die Liebe gespürt zu haben? Sicher ist: Judith stirbt zehn Jahre nach seiner Geburt, und Sejde weiß nur, daß er von einem Vater das blonde Haar, vom anderen die riesigen Füße und vom dritten die hängenden Schultern geerbt hat. Später hinterlassen sie ihm auch Haus, Hof, einen Batzen Geld, einen Namen und Jakob obendrein einen Vogelkäfig, Geschirr, die Regeln der Liebe und die Erinnerung an Judith.

Diese Liebesregeln, die Jakob stets aufs Neue erfindet, um Boden unter die Füße zu bekommen, und die Erfahrung, daß die Liebe dennoch unerklärbar bleibt, sind das Leitmotiv des Romans. Als äußere Klammer funktionieren die vier Mahlzeiten, die Jakob seinem Sohn Sejde in einem Zeitraum von über dreißig Jahren zubereitet. Während der ersten Mahlzeit erfährt Sejde die Ereignisse, die zu Judiths Ankunft im Dorf führten. Die muß der Junge kennen, „weil das Schicksal keine Überraschungen bereitet“, nur Signale schickt, die man lesen lernen muß. Es sind viele, sehr unterschiedliche Signale, die Shalev mit einer Fülle von verschiedenen Episoden andeutet. Alle scheinen sie nebeneinanderzustehen, aber dann verschränken sie sich, und man erkennt, in der Liebe hängt alles mit allem zusammen.

Während der zweiten Mahlzeit erfährt Sejde von Judiths Ankunft und davon, daß man die Liebe wie Kisten und Kästchen zwar wegschließen kann, „aber die Sehnsüchte, die dringen auch durch die Wände“. Während der dritten lernt er die Regeln der Werbung – „nur große Würfe zählen in der Liebe“ – und ganz zum Schluß, wie Jakob nach allen Regeln der Kunst die Hochzeit mit Judith vorbereitet und Judith alle Regeln mißachtet und ihr Schicksal selbst bestimmt. „A Mensch tracht, und Gott lacht“, hatte der Viehhändler immer zu Jakob gesagt. Aber liest man Shalevs Roman genau, stimmt nicht einmal dies. Die Liebe, so lehrt er, ist unerreichbar. Aber wer nicht versucht, sie zu erreichen, ist kein Mensch.

Meir Shalev: „Judiths Liebe“. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Diogenes Verlag, Zürich 1998, 396 Seiten, 44 DM