Der Stein der Schuldigen

■ Poesie und Dramatik im Detail: Olivier Tambosis fabelhafte „Jenufa“-Inszenierung an der Staatsoper

„Das wird dem Hause sicher guttun“, meinte Christa Bröse, rechte Hand und gelegentlich wohl auch Kopf der Hamburgischen Generalmusikdirektoren der vergangenen 25 Jahre (“der nächste Herr, dieselbe Dame“), auf der Premierenfeier. Mit ungeteiltem Jubel hatte sich soeben der Vorhang gesenkt über der fünften Inszenierung der neuen Mannschaft in der Dammtorstraße. Seit Sonntag gehört Janáceks Jenufa zu den unstrittigen Glanzstücken des Repertoires der Staatsoper, oder, in der Metaphorik von Regisseur und Bühnenbildner: Diese Inszenierung wird künftig einen Stein im Brett haben, nicht nur bei den Hamburgern.

Denn wer im ersten Akt noch nicht begreifen konnte, was die kleine Felsenkuppe zu bedeuten hatte, die da inmitten einer schrägen Bühne von unten kreisrund durch die Bretter brach, der wußte es im zweiten. Da war der Stein geboren. Wie Jenufas Kind. Der Stein lag offen mitten auf der Bühne. Das Kind war gut versteckt, ein Gegenstand gesellschaftlicher Schande, denn sein Vater wollte nicht sein Vater sein. Im Lauf der Handlung werden alle schuldig aneinander. Mit einer Ausnahme: das Kind. In einer schon archaisch-traurigen Pointe wird es, als einzige Figur, unschuldig zum Opfer unterm Eis nach einer Woche Leben. Auch die Schuld ist der Stein, in Text und Dramaturgie der Oper vielfach beschworen (so, wenn die Dorfgemeinschaft am Ende Miene macht, die vermeintliche Kindsmörderin Jenufa zu steinigen).

Wie Regisseur Olivier Tambosi die Metapher szenisch einlöste, und auch wie Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann sie Gestalt werden ließ, das hatte Stil, denn es vermied bei aller Einfachheit das Simple. Regie und Bühnenbild modellierten das Wesentliche, ohne darüber die Poesie und Dramatik des Details zu vergessen. Der konzentrierte, weder durch folkloristische noch politische Abschweifungen getrübte Blick ins Seelengeflecht der Schuldigen ließ zudem viel Raum fürs Erlebnis der Musik. Die begleitet bei Janácek nicht nur gelegentlich die Szene, kunstvoll-lautmalerisch Atmosphäre schaffend, sondern wird selbst Szene, trägt Handlung – und nicht nur Handlung: Was in Jenufa an Melodie und Arioso stattfindet, passiert weitgehend im Orchester.

Die Philharmoniker unter Peter Schneider trugen durch intensives, nie vordergründiges Agieren denn auch gehörig zum Erfolg des Abends bei. Karita Mattila, Rollendebütantin als Jenufa, ist, nach ihrer hochpräsenten Stimme wie ihrer beredten Erscheinung, ein Glücksfall für jede Inszenierung. Eva Marton als Küsterin paßte, gerade mit den gelegentlichen Überspitztheiten ihrer Stimme, gut ins psychologische Profil dieser Rolle. Jan Blinkhofs farbig-kräftiger Bariton gab der zurückhaltenden Menschlichkeit Lacas großen Ausdruck. Albert Bonnema als Tunichtgut Stewa hielt stimmlich gute Balance – zwischen schön und verkorkst.

Dem Vernehmen nach wird Olivier Tambosi im November Lucia di Lammermor in Hamburg machen. Da stellt sich Freude ein.

Stefan Siegert

Weitere Aufführungen: 8.4. (19.30), 11.4. (19.30), 15.4. (19.00), 18.4. (19.30), 22.4. (19.30), 25.4. (19.30), 2.5. (19.30)