Diffamiert als Spinner und Demagoge, in Wahrheit ein Realist

■ Die Erinnerung an einen Redlichen. Zur Bedeutung des antiautoritären Sozialisten Rudi Dutschke

Marxisten geht es fast immer sehr gegen den Strich, die Rolle einmaliger, unverwechselbarer Persönlichkeiten anzuerkennen, und ich weiß bis heute nicht, weshalb ich das Besondere an Rudi Dutschke wahrnehmen und akzeptieren konnte, als er mit seiner Gruppe in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Westberlins kam. Es war sicher nicht das absolut Neuartige seiner Theorie, das mich beeindruckte – einen rätedemokratisch gefärbten Marxismus hatten sich die SDSler schon vor Dutschke in jahrelangen Bemühungen angeeignet, da konnten wir uns höchstens an Übereinstimmungen freuen.

Das Neue und Ungewohnte war Rudis Art, mit Menschen umzugehen, sie als potentielle Mitstreiter sofort ernst zu nehmen und ihnen kein esoterisches Wissen abzuverlangen, bevor sie in den Kreis erprobter Genossen aufgenommen wurden. Er brachte die junge Studentin, den jungen Studenten, die er gerade auf der Straße getroffen hatte, sofort mit ins Allerheiligste eines inneren Zirkels, der schon seit vielen Jahren hochkarätige Theorie pflegte und Programmatisches zur Erleuchtung der Unkundigen hervorbrachte. Er mißachtete die ungeschriebenen Bedingungen einer Kooptation in den Kreis der Eingeweihten, er war nicht nur in seinen schriftlichen Bekundungen, sondern in seinem ganzen Verhalten ein antiautoritärer Sozialist, und dies unterschied ihn grundlegend von vielen sozialdemokratisch geprägten Alt-SDSlern, aber auch von engeren Weggefährten, die einer Instrumentalisierung menschlicher oder politischer Beziehungen im Dienste irgendeiner übergeordneten Sache nicht abgeneigt waren.

Unbestreitbar hat Rudi Dutschke seine Zuhörer durch die Suggestivkraft seiner Rede in seinen Bann gezogen – und trotzdem wäre es verfehlt, es vor allem seiner heute fremd anmutenden Rhetorik zuzuschreiben, daß viele bei ihm politische Orientierung suchten und fanden. Die politischen Ziele, die Rudi vertrat, traten nicht in erster Linie als Ergebnisse brillanter Analysen hervor – da gab es SDS-Theoretiker, die ihm an sprachlicher Klarheit überlegen waren. Politische Positionsbestimmungen drückten sich bei Rudi auch und vor allem darin aus, wem er sich zuwandte, wohin er reiste, wo er ohne taktische Manöver die Konfrontation suchte. Seine Aktivitäten und Begegnungen, wie sie zuletzt von Gretchen Dutschke in ihrer Biographie festgehalten worden sind, enthalten schon ein politisches Programm.

So war der Besuch in Prag im März 1968, gleich nach dem Westberliner Vietnam-Kongreß, eine Solidaritätserklärung für die tschechischen Reformkommunisten und bedeutete zugleich, daß die Verurteilung der US-amerikanischen Verbrechen in Vietnam nichts mit einer Unterordnung unter die sowjetische Strategie zu tun hatte. Gegen alle Bündnisangebote und -versuchungen hat Rudi auf der Unabhängigkeit einer neuen sozialistischen Linken bestanden und gleiche Distanz zu den Herren des US-amerikanischen wie des sowjetischen Imperiums gewahrt. Dies schien vielen damals ein Mangel an Realismus angesichts einer Situation, die angeblich die Anlehnung der Schwachen an starke Partner verlangte.

Heute sehen wir, daß der von den Progagandisten eines „realen“ Sozialismus als voluntaristischer Spinner diffamierte Rudi in Wahrheit ein großer Realist war – mit seinem ausgeprägten Sinn für die richtige Stunde politischer Intervention und für die Schwächemomente jeder herrschenden Ordnung.

Dies war einer der Gründe für die Stärke und Attraktivität der Emanzipationsbewegung von 1968. Und hier kann die Erinnerung einem Verlust an politischer Orientierung entgegenwirken – zumal bei denen, die sich in Verleugnung der eigenen Vergangenheit nach dem Verschwinden des Ostblocks dem übriggebliebenen Imperium unterwerfen möchten und es für aufgeklärt halten, wenn sie das Fehlen jeder Alternative zur herrschenden Barbarei für schicksalhaft erklären. Klaus Meschkat

Der Autor, seit 1954 Mitglied im SDS, ist Soziologieprofessor in Hannover