Blütentreiben in ferneren Weltgegenden

■ Über das Sammeln von Mythen und Bildern, die Erotik der Poesie und eine Poesie des Erotischen: Octavio Paz schrieb über die Jahre hin an einem großen west-östlichen Divan

Indien nimmt im Werk von Octavio Paz eine wichtige Stellung ein. Das erklärt sich zum einen biographisch: Schon in den fünfziger Jahren lernte Paz Indien kennen, und später war er dort Botschafter der mexikanischen Republik. 1968 trat er von seinem Posten zurück, um auf diese Weise gegen die blutige Niederschlagung von Studentendemonstrationen in Mexiko- Stadt zu protestieren. Beispiele, Anspielungen, Denkfragmente aus östlichen Kulturkreisen findet man überall in den Schriften von Paz. Das, was der Autor selbst als seine „indische Edukation“ bezeichnete, ist die Befriedigung eines Bedürfnisses, die Verwirklichung eines Vorhabens, das nicht wenige westliche Intellektuelle dieser Generation umtrieb: die Grenzen des abendländischen Denkens zu überschreiten.

Paz trifft sich hier mit nordamerikanischen Künstlern wie Allen Ginsberg oder John Cage. In seiner Gedichtsammlung „Östlicher Abhang“ steht der Satz „John Cage ist kein Amerikaner / oder / John Cage ist Amerikaner“ und an anderer Stelle: „John Cage ist Japaner / und keine Idee: / er ist Sonne auf Schnee.“ Dieses Örtlich-Verwurzeltsein und Blütentreiben in ferneren Weltgegenden zeichnete auch Octavio Paz aus. In einem Aufsatz über Carlos Fuentes schrieb er 1965, die zeitgenössische Literatur tendiere auf alle Fälle zur Weltliteratur. Wie das Gesicht dieser Literatur aussieht, hängt ein wenig auch von denen ab, die sie schreiben, ob sie globale, marktkonforme Strickmuster verwenden wie die Vasallen der Bildmedien oder sich mit Leib und Seele dem Anderen aussetzen, wie es Octavio Paz getan hat.

Auf seinen Streifzügen stieß Paz immer wieder auf geheime Quellen, aus denen sich beides, das Nahe und das Ferne, das Vertraute und das Fremde, speist. Er sah die Quelle bei den westlichen wie bei den östlichen Musikern sprudeln und wies darauf hin, daß Schopenhauer oder auch Heidegger aus ihnen getrunken hat.

Eine seiner Hauptsorgen galt den neu aufbrechenden Fundamentalismen und Nationalismen, die er als Produkt und Krisenerscheinung der Moderne begriff. „Im Lichte Indiens“, das letzte auf deutsch erschienene Buch von Paz, zeigt solche Bruchlinien auf, die heute die traditionellen sozialen und geistigen Fundamente in Bewegung bringen.

Paz betonte mehrmals, daß er nicht daran denke, seine Memoiren zu schreiben, und in der Tat ist die panoramahafte Darstellung bereits Stilprinzip seiner frühen Essays wie „Das Labyrinth der Einsamkeit“ oder „Der Bogen und die Leier“. Überhaupt wird man, überblickt man das umfangreiche und vielfältige Werk dieses Autors, eine starke Einheitlichkeit des Denkens und der Ausdrucksformen feststellen. Ein Memoirenschreiber ist einer, der sich im Leben zur Ruhe gesetzt hat, und das trifft auf Octavio Paz nicht zu. Paz war ein Sammler, ein Versammler von westlichen und östlichen, prä- und postkolumbianischen, alten und neuen Bildern, imágenes, Mythen und Ideogrammen. In diesem Sinn könnte man sagen, er habe über die Jahre hinweg an einem großen west-östlichen Divan geschrieben.

Die „indische Edukation“, wie der Autor selbst sie nennt, ist eine éducation sentimentale, aber auch intellectuelle. Was zieht Paz am östlichen Denken, am östlichen Lebensstil im besonderen an? Da ist einmal der Erotismus, der nicht im Gegensatz zur Religion steht, sondern ein Weg zur Erleuchtung sein kann. Die Erinnerungsfragmente, die „Im Lichte Indiens“ auch enthält, vermitteln bisweilen den Eindruck einer ringsum herrschenden Allerotik, die dem Ich aus der Landschaft aus der überbevölkerten Stadt, aus der flirrenden Nacht, vom Firmament entgegenweht. Auch die großen Dichtungen von Paz wie „Herzstein“ oder „Viento entero“ (Aus allen Himmelsrichtungen) haben diese erotisierende Wirkung, die er in „Der Bogen und die Leier“ als Wesensmerkmal von Poesie darstellt. Die sinnliche Wahrnehmung von Natur, die geschlechtliche Vereinigung, der Gebrauch der Sprache und, ja, auch das Denken – diese zunächst klar unterschiedenen Tätigkeiten laden sich unter der schöpferischen Berührung mit einer gleichsam elektrischen Intensität und erweisen im Gedicht ihre Gleichursprünglichkeit in dem, was Paz die „Andersheit“ des Menschen nennt. Epiphanie, religiöse und erotische Selbstüberschreitung sind die Ausnahmezustände, nach denen der Dichter sucht, die mitteilende Sprache zur Teilhabe umwandelnd, und es scheint, daß Indien für Paz die bevorzugte Weltgegend solcher Erfahrungen ist.

Die asketischen Übungen, die im Buddhismus zur Befreiung führen, sind nach Paz ein „paradoxes Unternehmen, denn es ist eine Aktivität, um einen Zustand der Inaktivität zu erreichen“. Askese grenzt an Erotik (und an Athletik). Die „erotische Metapher“ ist ihrerseits doppeldeutig, denn sie versucht Lust und Tod zusammenzusehen. Die sprachliche Dynamik, der Paz in seinen Gedichten Raum gibt, erinnert nicht selten an die antithetischen Verfahrensweisen der europäischen Mystiker oder der Barockliteratur, an Góngora und Angelus Silesius. In einem seiner Indien-Gedichte beschwört der Autor „einen Augenblick wahres Leben / Es hatte das Gesichts des Todes / Leben und Tod dasselbe Antlitz / verschwimmend / im selben flimmernden Meer“. Ein Charakteristikum des Menschlichen ist es, daß wir solche Einheit immer nur blitzartig, auf Augenblicke begrenzt, erfahren können. Dem Gedicht obliegt es, dieser Flüchtigkeit einen Schein von Dauer zu geben. Leopold Federmair