Todessturz überschattet Besetzerfestival

In Leipzig kämpfen angereiste Hausbesetzer und Polizei 24 Stunden lang um leerstehende Wohnungen: 120 oder 33 Häuser okkupiert? Studentenpfarrer Bickhardt unternimmt vergebliche Vermittlungsversuche  ■ Aus Leipzig Jens Rübsam

Zuletzt wußte sich die Stadt Leipzig nicht anders zu helfen, als eine Allgemeinverfügung zu erlassen. „Es ist verboten“, hieß es am Samstag vormittag aus dem Ordnungsamt, „im Stadtgebiet offene Feuer zu entfachen, Barrikaden zu errichten und Straßenfeste zu veranstalten.“ Die Jugendlichen, die am Freitag zu den „1. Weltfestspielen der Hausbesetzer“ nach Leipzig gereist waren, um 30.000 leere Wohnungen in 24 Stunden zu besetzen, hatten die Behörden ordentlich auf Trab gehalten. Die Organisatoren sprechen von 120 Haus- und Scheinbesetzungen im gesamten Stadtgebiet und von einem „vollen Erfolg der Aktion“. Die Polizei spricht von elf Häuserräumungen. Von 22 Häusern, die nach Aufforderung sofort wieder verlassen wurden. Und von einer „großen Provokation“. Hausbesetzungen sind in Leipzig eine große Provokation. Seit 1992 gilt die „Leipziger Linie“: Kein Haus darf länger als 24 Stunden besetzt sein. Daran wollten sich die Behörden auch am Wochenende halten.

Freitag abend halb sieben in Leipzig-Süd, Alfred-Kästner- Straße: Auf dem Dach eines leerstehenden Hauses stehen 15 Jugendliche und schreien: „Wir kämpfen für die Freiheit.“ Am Haus hängt ein Transparent, „Besetzt“ steht drauf. Davor haben sich Polizeibeamte postiert. Noch heißt es abwarten.

In einer Nebenstraße stehen Anne und Britt, schauen hinüber zu dem Haus, „ihrem Haus“. Immer wieder mal haben sie sich dort getroffen, „gequatscht und Feten gefeiert, weil es für linke Jugendliche nicht viel gibt in der Stadt“. Anfang der Woche war das Haus endgültig geräumt worden, obwohl zwischenzeitlich von einer Lösung die Rede war. Für die Kids aus der Kästnerstraße, so hatte es der zweite Bürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) versprochen, soll bis Juni ein legaler Treffpunkt gefunden werden. Davon war Anfang der Woche nichts mehr zu hören. Der Haupteingang des Hauses wurde zugemauert. Die Stimmung war angeheizt.

Jetzt fliegen Ziegelsteine, Flaschen und Stahlkugeln, die Kids skandieren: „Scheiß Bullen“. Die Einsatzleitung läßt keine Kompromisse zu: „Die werden festgenommen und dem Richter zugeführt. Darüber wird nicht diskutiert.“ Auch nicht mit Stephan Bickhardt, dem Studentenpfarrer, der sich ananbietet zu vermitteln. Er will ins Haus gehen und mit den Kids reden. Es wird ihm verwehrt. Statt dessen werden Wasserwerfer aufgefahren und Sondereinsatzkommandos heranbeordert.

Dreimal werden die Kids aufgefordert, das Haus zu verlassen. Sie werfen weiter Ziegelsteine und Flaschen. Kurz nach 21 Uhr wird das Haus gestürmt. Die Jugendlichen werden vom Dach geholt, auf der Straße an eine Mauer gepreßt und durchsucht. Um 21.28 Uhr ist der Einsatz beendet. 15 Personen werden vorläufig festgenommen. Gegen sie wurden Strafverfahren unter anderem „wegen versuchten Totschlags und schweren Landfriedensbruchs“ eingeleitet. Pfarrer Stephan Bickhardt bescheinigt den Polizeibeamten „ein gewisses Maß an Agressivität“.

Nervös war man in Leipzig schon den ganzen Freitag über. Um 10.30 Uhr räumte die Polizei die ersten Häuser, um 14 Uhr schritt sie massiv ein, als Jugendliche eine Villa im Stadtteil Connewitz besetzten. 17 Festnahmen gab es. Zwischendurch rissen die Beamten immer wieder Plakate von Fassaden. Am Abend der zweite Großeinsatz in der Kästnerstraße. Später der dritte, ebenfalls im Stadtteil Connewitz. Ein Feuer war auf der Straße entfacht und eine Straßenbahnhaltestelle demoliert worden. Gegen 23.30 Uhr ein tragischer Unfall. Vom Balkon eines besetzten Hauses stürzt ein 22jähriger Mann in den Tod. Jede Hilfe kommt zu spät. Vor dem Haus werden Kerzen angezündet.

Die „1. Weltfestspiele der Hausbesetzer“ waren inzwischen mehr als nur ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Autonomen geworden. Nicht ganz unschuldig an den Ausschreitungen waren einige Autonome selbst. Sie wollten „Spaß haben und Bullen jagen“. Mehr nicht. Dabei hatten die Organisatoren mit den „Weltfestspielen“ durchaus ernsthafte Absichten: mehr Aufmerksamkeit für den Wohnungsleerstand in Leipzig. Demonstrieren, daß Hausbesetzungen Teil sozialer Kämpfe und ein Interventionsmittel sind, ob nun mit subkulturellem oder politischem Background. Zeigen, daß Leipzig dem geplanten Fascho- Aufmarsch am 1. Mai etwas von linker Seite entgegenzusetzen hat.

88 Festnahmen. Vier verletzte Polizeibeamte. So das Resümee der Polizei. 120 Hausbesetzungen in 24 Stunden. Verdächtig, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen. So das Fazit der Organisatoren der Besetzerfestspiele.