Sündenfall, Eis im Blut

■ Erstaunlich ungrob, aber doch entstaubt: Kay Neumanns Fassung von Hebbels Trauerspiel Maria Magdalena im Bremer Schauspielhaus

Vielleicht ahnt er ja doch etwas. Jedenfalls macht dieser Grimmbatz und Eisklotz manchmal so ein wissendes Gesicht. Wenn der alte Tischlermeister Anton in diesen Momenten sein Ohr, sein Herz und erst dann seinen Mund aufmachen würde, könnte die Geschichte vom Kleinbürger, seiner unverheiratet schwangeren Tochter und übrigem Personal anders enden, als sie endet. Biblischer vielleicht?

Im Schauspielhaus ist Religionsstunde, Abteilung Werte und Normen oder Befreiungstheologie. Es wird an lebenden Exemplaren verhandelt das Gleichnis von Maria Magdalena in der Variation Friedrich Hebbels (1813-1863). Allein, es tritt kein Jesus auf, der mit dem Satz „wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ den lebensrettenden und einen der weisesten aller je gesagten Sätze sagt. Hier in der Tischlerwerkstatt muß Klara ihrem sturen Vater Anton schwören, daß sie ihm keine Schande machen wird. Doch das Versprechen ist schon gebrochen, bevor sie es gegeben hat. Da sieht ein klassisches Drama gewöhnlich zum Schluß Selbstmord der Protagonistin vor, und auch Hebbels Maria Magdalena weicht nicht von dieser Regel ab.

Es war in den „Vormärz“-Jahren der 1840er, als Friedrich Hebbel sein bürgerliches Trauerspiel in die bigotte Protestantenwelt setzte. Die Schwangerschaft seiner tragischen Heldin, die im Titel Maria Magdalena und im Stück Klara heißt, erregte damals ziemlich Anstoß. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, reagierten LeserInnen des Stückes und ZeugInnen der teils zensierten Aufführungen ab 1846 mit Empörung. Weil auch auf der Bühne geschehen dürfen muß, was nunmal geschieht, sahen andere in Hebbels Stück Zuspitzung und genaue Beobachtung oder gar ein revolutionäres politisches Ereignis. Damals. Doch nun kommt mit dem Mittdreißiger Kay Neumann ein recht junger Regisseur daher, um das Trauerspiel anno 1998 am Bremer Schauspielhaus zu inszenieren.

Die Tischlerwerkstatt hat das Ausmaß einer kleinen Fabrik bekommen (Bühne: Nikolaus Porz). Hinten überbrückt ein Galeriegang die preußisch blau verkachelte Wand und das Podest mit den Ausstellungsstücken. Vier verschiedene Sarg-Ausführungen sind zu haben, vier Särge werden am Ende auch gebraucht.

Auftritt Klara (Katrin Heller) als mithelfende Tochter eines Familienbetriebs. In langem Kleid und langer Schürze zieht sie erstmal einen Deckel der Ausführung Zink-sarg aus dem Wasserbecken im Keller und richtet dann die Werkstatt für eine Kaffeetafel her. Es sind dies übrigens Alltagstaten, für die sich der Übungsleiter Kay Neumann vor allem im ersten Akt Zeit nimmt. Man munkelt, er hätte das fernsehspielsprengende Format von rund zweidreiviertel Stunden gern noch weiter gesprengt. Der Neumann ist halt ein erzählfreudiger Regisseur, aber für sein Alter erstaunlich ungrob der Vorlage und den Figuren gegenüber.

In der herben Sprache und der Grobheit, in der Hebbel sie schon angelegt hat, lassen Katrin Heller ihre Klara und Sebastian Dominik seinen Meister Anton auf der Bühne aufleben. Wobei von „Leben“ nur in Grenzen die Rede sein kann. Hebbel selbst notierte über seine durchweg echten Vorbildern abgeguckten Figuren und den Fortgang der Handlung: „Immer mehr Eis im Blut“. Und so gibt der vorzügliche Sebastian Dominik seinen Anton, von gelegentlichen Wutausbrüchen abgesehen, despotisch-erstarrt – und macht das eine so beklemmend wie das andere. Auch an Katrin Hellers resoluter Schroffheit könnte eine „Titanic“ sinken, wenn diese Klara nicht gerade allein und verzweifelt oder zusammen mit ihrem Vater auf der Bühne ist, der sie einmal gewaltsam küßt und sie in seiner Wut mehrmals ebenso gewaltsam niederringt.

Kay Neumanns Inszenierung lebt vom Schauspiel dieser beiden HauptdarstellerInnen, die miteinander sprechen, ohne miteinander zu reden, und füreinander nur Nötigungen und Formeln des Genötigt seins übrig haben. Das übrige Personal ist um zwei Minifiguren verkleinert und entspricht mit zwei Ausnahmen der erzählerischen Anlage dieser Regie. Ausnahme eins ist Cornelia Kempers. Wo Hebbel Regisseure anweist „fällt um und stirbt“, plaziert sie als Mutter ein bühnenraumgreifendes Ableben. Und Uwe Kramer kommt in der größeren Ausnahme zwei als Kaufmann Wolfram hinein wie eine Statue, mutiert dann zur Heulboje und schließlich zum Snob.

Ganz gewiß mit Erlaubnis des Regisseurs lassen Kempers und Kramer etwas Ironie im Drama aufflackern. Ansonsten geht das Trauerspiel seinen dramatischen Gang und wirkt dank der soliden SpielerInnenführung Kay Neumanns und vor allem dank des guten Ensembles (besonders: Peter Pagel als Kindsvater und Karrierist Leonhard) vom Klassikerstaub befreit.

Christoph Köster

Aufführungen: heute, 9. Mai, sowie am 13., 15. und 20. Mai, 20 Uhr