Keine Energie mehr für Masken

■ Anke Krahe erzählt mit Marianne von einer Frau, die sich perfekt im Doppelleben zwischen Ordnung und Chaos eingerichtet hat – bis sie daran zugrunde geht

Eine Frau lebt ein Doppelleben. Nach außen wirkt Marianne gepflegt auf ihre Kolleginnen bei der Krankenkasse. Sie ist sehr beliebt, obwohl ihr Putzfimmel zu Spöttereien Anlaß gibt. In der Modeboutique in der Nachbarschaft ist sie eine gerngesehene Stammkundin. Fast jede Woche kauft sie sich neue Kleider.

In ihrer Wohnung stapelt sich der Müll. Nichts kann diese Frau wegwerfen, weder 20 Jahre alte Zeitungen noch leere Flaschen noch Papiertaschentücher noch Zigarettenkippen. Dazwischen liegen Hunderte von Kleidern und Strumpfhosen, nicht einmal getragen. Alles ist nach einem bestimmten Prinzip angeordnet.

Nach dieser wahren Geschichte, die der Spiegel im vergangenen Jahr veröffentlichte, hat die Hamburger Schauspielerin Anke Krahe zusammen mit dem Regisseur Volkmar Hoffmann das Solostück Marianne inszeniert. In fünf fragmentarischen Szenen wird das öffentliche Leben dieser Frau geschildert, das an ihrer Wohnungstür endet: ihre Freundlichkeit am Arbeitsplatz; ihre Rede zum Einzug in die neue Wohnung; ihre Träume von einer Kreuzfahrt; ihre Angst, in die Frührente gezwungen zu werden; ihre Affäre mit einem verheirateten Mann, der für die beiden eine Wohnung anmieten muß. Zwischen diesen Darstellungen ihrer wenigen sozialen Kontakte, getrennt durch Cellomelodien von Stephan Heukeshoven, wird ihre letzte Lebensphase geschildert, die sie nur noch in ihrem Appartement verbracht hat.

„Wir haben uns auf dieses Doppelleben konzentriert, das sie dreißig Jahre verheimlicht hat“, schildert Krahe ihre Motivation. „Sie geht jeden Tag ins Büro, und auf der anderen Seite ist ihr Leben total gekippt.“ Dabei ging es ihr nicht darum, die Zwangsneurose von Marianne psychologisch aufzuarbeiten. Das kann das Stück nicht leisten, obwohl „die Frage sicher wichtig ist: Warum passiert so etwas, warum leben in unserer Gesellschaft so viele Zwangskranke?“ Viel wichtiger ist der Schauspielerin, herauszufinden, warum die Frau am Ende das Haus nicht mehr verließ: „Sie versucht es zwar, hat aber nicht mehr die Energie, weil niemand sie mehr erwartet. Sie hat nicht mehr die Energie, die Maske, die sie lange Jahre nach außen getragen hat, noch einmal aufzubauen.“ Marianne stirbt irgendwann und wird nach einem Jahr völlig verwest gefunden. Die Todesursache wird nie geklärt.

Eberhard Spohd

Premiere 15. Mai, weitere Vorstellungen 16. und 17. Mai, 20 Uhr Monsun-Theater, Friedensallee 20