Apokalypse now!

Brutales Postbabylonisch: Der Prager Autor Jáchym Topol und sein Roman „Die Schwester“  ■ Von Kolja Mensing

In Dresden muß Jáchym Topol unbedingt noch ins Karl-May- Museum. Weil er Indianer toll und Karl May verrückt findet. Er war schon einmal dort, im vergangenen Jahr, entdeckt aber diesmal immerhin eine lateinische Übersetzung „Winnetous“ und ein Aktgemälde des Indianerhäuptlings – neu in der Sammlung. Und außerdem Holzfiguren, die man kaufen kann: ein Indianer, der auf einem buntbemalten Pferd reitet. Ein Mitbringsel für Topols kleine Tochter.

Der tschechische Autor Jáchym Topol ist auf Lesereise, im Gepäck sein dickes Buch „Die Schwester“. Gestern ist er von Prag nach Dresden gefahren, jetzt geht es im Interregio weiter nach Berlin: westwärts. Eigentlich will man ihn im Zug ganz schlau und feuilletonistisch fragen, wo für ihn heute, in den 90er Jahren, Osteuropa endet. Aber er führt so stolz die gerade erstandenen Indianerfiguren vor, daß man sich fast nicht mehr traut: Topol, von dem man doch eigentlich etwas hören wollte über das Chaos der Nachwendezeit und postkommunistische Befindlichkeiten, ist ganz weit weg. Gar nicht in Europa, gar nicht von dieser Welt. „Keine Fragen mehr?“ erkundigt er sich freundlich nach einer Stunde Zugfahrt: „Dann schlafe ich ein bißchen.“ Und als er in Berlin-Lichtenberg müde auf den Bahnsteig stolpert, erzählt er, daß er derweil von kleinen, unheimlichen Tieren geträumt habe.

„Ich habe geträumt...“, so beginnen mehrere unheimliche Kapitel in „Die Schwester“. Nach „Engel Exit“ (1997) das zweite Buch Topols, das in Deutschland erscheint: ein fast siebenhundert Seiten langer Alptraumtext. Eine (ost-)europäische Apokalypse. Ein mythisches Spektakel. Eine verzweifelte Lovestory. Und ein Indianerroman, zumindest was das Vokabular angeht: Fünf junge Männer gründen einen „Stamm“ und schlagen ihre Zelte in einem Mietshaus in der Prager Vorstadt auf, um die zu Geld gekommenen Bleichgesichter im Nachwende- Prag abzuzocken: Potok, die streunende Hauptfigur des Buches, der geschäftstüchtige Mitzka, der selbsternannte Priester Göttler, Hai, der jüdische Geschäftsmann, und David, der als unschuldiger Provinzler auf die abgebrühten Städter trifft. Die Bande setzt sich einen knappen Ehrenkodex – keine Drogendeals, keine Pornographie, keine Waffen – und legt los. Man trägt Informationen über alte Kader zusammen, besticht die Angehörigen der neuen Elite, mit denen man früher in schäbigen Spelunken literweise Bier und „Feuerwasser“ gesoffen hat und bastelt mit Tipp-Ex so lange an Alt- und Neueigentümerverträgen herum, bis man durch ein paar Kapitalverschiebungen richtig viel Geld gemacht hat. Osteuropa nach dem Mauerfall: ein Selbstbedienungsladen.

Im Jahre 1989 sei „die Zeit explodiert“, heißt es in der „Schwester“, die mit der Verwunderung der Prager über die Schlangen von DDR-Bürgern vor der bundesdeutschen Botschaft in ihrer Stadt beginnt (und ein paar gerissenen Tschechen, die sich auch gleich einen Westpaß erschwindeln.) Topols Roman ist eine Suche: nach der wahren Sprache, mit der diese Explosion aus ihrem Zentrum heraus beschrieben werden kann. „Ich würde es auf kanakisch schreiben“, sinniert Ich-Erzähler Potok über das Buch, das er irgendwann schreiben möchte: „Auf dem Korpus einer sich verändernden Welt, auf den Ruinen der gewesenen Zeit würde ich ein berühmtes Kapitel des kanakischen Schrifttums begründen. Des neuen, postbabylonischen Kanakisch. Und: wennschon, dennschon. Ich werde das Buch in dem brutalen Postbabylonisch schreiben, wie ich es aufgeschnappt habe während meines Bummels durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ – Besser kann man Topols Sprengstoff-Sprache, die Eva Prousová und Beate Smandek mutig und kraftvoll ins Deutsche übersetzt haben, nicht beschreiben.

Der 36jährige Autor bedient sich am prallen Wortschatz der tschechischen Mythen und Märchen. Ergänzt sie mit den Bildwelten aus Indianermärchen. Kopiert stellenweise den homerischen Helden-Stil der „Odyssee“. Hat offenbar den Zynismus ideologischer Sprachspiele genau studiert. Und vermischt das alles mit dem Idiom, das auf den Prager Straßen gesprochen wird, dem schnoddrigen, häßlichen und literarisch geschmähten „Allgemeintschechisch“. Toll! Und oft sogar lustig: wenn er zum Beispiel das neue, internationale Lumpenproletariat, das in den europäischen Städten zusammenkommt, in fröhlichem „Kanakisch“ parlieren läßt: „Vor mir steht ein kleines Männchen, schwarz wie'n Schuh... Ungara, Bulgara, Polischa, Rumana... fragt mich das Männchen aus. Beinah richtig. Das liegt an meiner Visage. Ei äm Tscheckoslowakia! Ich schlag' mir an die Brust. Ich wais, Kommunisten, nix gutt! sagt das Männchen, seine Zähne leuchten dito. Ja, ja, stimme ich zu, große Schaiße, nix gutt, Führers! Kwatsch... Alter. Und juh? frage ich, Angolander, Kongomann, Ugandhi ... hm? Nain! Nain! Ich Kanak!“

Berlin ist eine Stadt für solche Begegnungen und taucht darum auch – verkauderwelscht als „Berlun“ – in der „Schwester“ auf. In der „Kulturbrauerei“ im Prenzlauer Berg liest Topol einen der vielen Exkurse, aus denen sein Roman besteht: eine Berlin-Geschichte, über Fahrraddiebe, Polenmärkte und fröhlichstes verbotenes Treiben. Alles selbst erlebt, sagt der Schriftsteller. Das Publikum ist begeistert, und auch Topol ist zufrieden: „Es freut mich, daß Sie sich so darüber amüsieren können, wie mein Kumpel und ich Ihnen hier vor einigen Jahren Ihre Fahrräder gestohlen haben.“ Und dann sagt er noch, wie erstaunt er war, als er zum ersten Mal die Anschrift seines hiesigen Verlags gesehen hat: „Volk und Welt“ sitzt nämlich in der Oranienstraße, die Topol bis dahin nur während seiner Zeit in Berlin als Flaniermeile für ihn und seine kleinkriminellen Freunde kennengelernt hatte.

Dieser Topol, der heute so lieb mit Indianerfiguren spielt und nur noch auf Fotos versoffen aussieht, war tatsächlich mal ein ganz Wilder: Als Sproß einer Dissidentenfamilie ist er im Prager Underground aufgewachsen, hat mehrmals im Knast gesessen, Lyrik und Rocktexte geschrieben, die illegale Literaturzeitschrift Revolver Revue herausgegeben. Nach 89 war er Reporter für eine politische Wochenzeitschrift: Kriegsberichterstattung. Bevorzugter Aufenthaltsort bisher: Rand der Gesellschaft. Doch heute sei das alles anders, erklärt er und berichtet von seiner jüngsten Establishment-Erfahrung: Die letzte Aktion militanter junger Prager gegen die Amerikanisierung ihrer Stadt hat er bereits auf der anderen Seite erlebt – er saß mit seiner Frau und seinem Kind in einem McDonald's, als die Autonomen die Scheiben des Fastfood-Restaurants einschlugen. „Was tut man hier in Berlin denn gegen die Amerikanisierung?“ fragt er sein Publikum und grinst, als es ihm auf dem Podium zu langweilig wird.

Das passiert schon mal. Weil Topol die immer wiederkehrenden Fragen nach dem literarischen Underground und seinem Dahinwelken keinen Spaß machen: Auf Legendenbildung hat er keine Lust. Und nach seinem Buch zu fragen traut sich niemand so richtig. Vermutlich weil „Die Schwester“, die in Tschechien bereits 1994 erschienen ist, viel zu wild und unbändig ist, viel zu zappelig und unruhig, als daß man sie beim ersten Lesen in den Griff bekommen könnte. Ein Buch wie der Turm zu Babel: groß, schön, vermessen – und kaputt.

Wo sollte man auch ansetzen? Da ist die Liebesgeschichte zwischen Potok und der geheimnisvollen schwarzhaarigen Sängerin, die mehr Archetypus als Wirklichkeit ist: die Schwester. Diese dunkle Romanze schießt wie ein sehnsüchtig und inzestuös aufgeladener Energieblitz durch den Roman, während an anderen Stellen düstere Visionen das Erzähltempo fast zum Stillstand herunterfahren: „Die Schwester“ ist nämlich eigentlich nicht lustig, sondern ein Buch der Ungleichzeitigkeiten, ein schauriges Tableau, auf dem Geschichte und Geographie nach unerklärlichen Gesetzen neu zusammenkommen. Und das immer neue Tote und Untote aus seinem dichten Sprachgewebe auftauchen läßt: Postmoderne, die weh tut. Wie in den schockierenden und zynischen Rückblenden in das Knochenmeer von Auschwitz – mit einem tschechischen Kapo als Fremdenführer: ein Tabubruch in Topols Heimat – oder in die verbotenen, verstrahlten Zonen um Tschernobyl. Oft bleibt dabei unklar, ob die eigentliche Handlung in der Gegenwart oder in einer nicht näher bestimmten nahen Zukunft angesiedelt ist: „Ich hänge im Raum über dieser Landschaft von Asche und Gerippen... Nichts von wegen Explosion der Zeit, Brüder“, heißt es dann plötzlich, „das, was ich gespielt und getanzt habe, ist der Tanz einer Leiche, eines Menschen ohne Zeit, und es ist ein Irrtum, ein eitler Irrtum.“

Dieses monströse Totenbuch darf man nicht einfach verschlingen, auch wenn die Sogwirkung noch so groß ist. Man muß sich langsam hindurcharbeiten, sonst gerät man ins Schleudern, verliert sich in den depressiven Schleifen und brutalen Bildern – und läßt sich von seinem wuchtigen Klang einfach überrumpeln. „Die Schwester“ ist ein Buch, das man mehrmals lesen muß, um so seine Sprache mit der Zeit zu erlernen. So wie Burgess' „Uhrwerk Orange“: Nicht um den Text besser zu verstehen, sondern um sich vor ihm zu schützen.

Denn Babylon ist voller Leichen. Irgendwann auf einer Autofahrt in Berlin beginnen Topol und seine ostdeutsche Lektorin sich auf Russisch zu unterhalten. Man selbst schaut aus dem Fenster und lauscht abwesend der fremden, unverständlichen Sprache. Da versteht man einen einzigen Satz: „Mickey Mouse is dead“, sagt Jáchym Topol, und es klingt erst komisch zwischen all den gurgelnden, russischen Wörtern. Und dann ganz wehmütig: Mickymaus ist tot. Die also auch.

Jáchym Topol: „Die Schwester“. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Prousová und Beate Smandek. Verlag Volk & Welt, Berlin 1998. 650 Seiten, 48 DM