Streit statt Sex

■ Sam Taylor-Wood ist eine der Young British Artists. Zu ihrem Werk gehören Kino, Fotografie, Malerei und Unfälle. Streit ist für sie das Leidenschaftlichste, was es gibt. Aber auch das Einsamste. Deswegen zeigt sie Streite

taz : Kannst du dich noch an den ersten Film erinnern, den du im Kino gesehen hast?

Sam Taylor-Wood: Ich erinnere mich an einen Film im Fernsehen, der wirklich einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat. Der hieß „Whistle down the Wind“, ein 60er-Jahre-Film. Er ist mit Alan Bates, ein wunderbarer Schauspieler, und handelt von Kindern, die einen geflohenen Gefangenen finden.

Als diese Landkinder ihn in einem Stall finden, schläft er, und sein Haar ist lang von der langen Zeit im Gefängnis. Die Kinder rütteln ihn, um ihn aufzuwecken, und fragen ihn „Who are you, who are you?“. Er schreckt hoch und ruft entsetzt „Jesus Christ“, und die Kinder denken, er ist Jesus, und behandeln ihn dann auch so. Es ist einfach ein wunderschöner Film. Abgesehen davon, daß er am Ende sehr traurig wird.

Wie würdest du den Einfluß von Filmen auf deine eigenen Foto- und Videoarbeiten beschreiben?

Der Einfluß ist sehr groß. Ich gehe ständig ins Kino und tue das, seit ich ein Kind bin. Ich bin in London aufgewachsen, und jeden Samstag haben wir nichts anderes getan, als ins Kino zu gehen.

Wenn man einen Film sieht, dann ist dort alles in eine Erzählstruktur gebettet, die Art, wie Menschen denken und fühlen. Man versteht, welchen Standpunkt jede Person vertritt. Für mich wurde das Hauptthema eines Films immer interessanter und welche Gefühle darinstecken. Es ist wichtig für mich, Handlungen und Dinge in einer Art Realzeit zu verfolgen, also sie in ihrem natürlichen Verlauf zu sehen. Und das ist sicher eine Sache, die ich teilweise vom Kino übernommen habe.

Manchmal besetzt du die Rollen in deinen Filmen mit Freunden, manchmal mit Schauspielern. Wovon hängt das jeweils ab?

Vom Thema. Manchmal mache ich sehr spezielle Sachen, und dann muß man Schauspieler haben, zum Beispiel wie für „Atlantic“, meine Arbeit für die Biennale in Venedig. Für die Szene im Restaurant brauchte ich unbedingt Schauspieler, die wissen, was sie tun. Aber in vielen anderen Stücken arbeite ich hauptsächlich mit Freunden. Du weißt anfangs noch nicht, wie sie reagieren, und das macht die Arbeit irgendwie wahrer, weil die Struktur erst mit der Arbeit entsteht.

Natürlich habe ich immer irgendwie eine Vorstellung, wie es aussehen könnte. Aber ich vertraue auch auf das Zufällige, den Unfall. Das ist oft besser als das Geplante.

Bei dir sieht man immer einsame Menschen oder Frauen und Männer, die sich streiten. Warum ist das so?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Ein typisches Beispiel hierfür ist meine Arbeit „Travesty of a Mockery“. Sie handelt von zwei Menschen, die heftig streiten. Am Ende war mir klar, wenn man mit jemandem wirklich streitet, ist das das Leidenschaftlichste, was man tun kann. Es ist leidenschaftlicher, als mit einer anderen Person Sex zu haben. Wenn du in einer solchen Situation steckst, bist du unheimlich einsam, obwohl du kaum näher an jemandem dran sein kannst. Aber der eine versteht deine Argumente nicht, und du verstehst seine nicht. Physisch ist man sich sehr nahe, aber kopfmäßig weit entfernt voneinander.

In meiner Arbeit sind die beiden zusätzlich durch die Schwelle zwischen zwei Leinwänden getrennt, und als einer von ihnen die Schwelle überschreitet, verletzt er diese Grenze und wird zurückgedrängt. Was ich damit zeigen will, ist, daß trotz jeglicher sozialer Kommunikation viele Menschen sehr isoliert leben.

In deiner Arbeit mischen sich Leben und Erfahrungen einerseits mit Imaginationen und Illusionen andererseits. Kannst du das steuern?

Nein. Als ich an „Brontosaurus“ arbeitete, starben eine Reihe meiner Freunde und Familienangehörigen. Als ein Freund meine Arbeit sah, sagte er, daß sie traurig wäre. Eigentlich sollte es aber eine fröhliche Arbeit werden, die glücklich macht. Ich hatte mir vorgestellt, ein Freund sollte nackt tanzen, es sollte ganz privat, aber doch befreiend sein.

Wir hatten viel Spaß beim Drehen. Er tanzte sehr schnell zu Techno. Als ich dann den Film bearbeitete, schnitt ich die Musik heraus und machte seine Bewegungen langsamer, so daß sie sehr schön wurden. Ich habe mir dann eine langsame Musik ausgewählt, und als ich mir mit jenem Freund das Ergebnis ansah, war es ganz anders als geplant. Ganz unbewußt handelte es plötzlich von der Fragilität des Lebens und der Verletzlichkeit des Menschen, vom Tod.

Wie entwickelst du eine neue Arbeit?

Ich laufe ständig in London herum, trinke viel Kaffee und denke nach. Dann verlasse ich London, schlafe wenig und hoffe, daß ich eine Idee habe. Es ist ein langer Gedankenprozeß, der sich aus vielen Dingen speist, aus einer Arbeit, die ich vorher gemacht habe, aus Kinobesuchen, aus Büchern, von Menschen und Begebenheiten auf der Straße und in meinem persönlichem Umfeld.

Du bist seit einem Jahr Mutter. Hat das deine Arbeit verändert?

Es hat mein Leben verändert, aber bis jetzt kann ich keinen Einfluß auf meine Arbeit ausmachen. Meine Art zu arbeiten hat es allerdings durchaus verändert. Ich habe mehr Streß, weil ich denke, ich muß jetzt schneller arbeiten. Aber meine Gedanken über meine Arbeit kreisen nicht ums Muttersein.

Weihnachten lag ich mit Krebs für eineinhalb Monate im Krankenhaus, und ich denke, daß das wirklich meine Arbeit beeinflußt hat. Ich bin jetzt wieder gesund, aber es war lebensbedrohlich. Ich hatte das Gefühl, daß mir auf einmal zwei Leben gegeben wurden, das meiner Tochter und mein eigenes noch einmal – zwei große Verantwortungen.

Man zählt dich zu den sogenannten Young British Artists. Was bedeutet das für dich?

Das heißt für mich, ein Leben lang ein Label zu tragen. In einer Hinsicht ist das gut, weil es einer Menge Künstler Aufmerksamkeit gebracht hat. Aber es existiert hier keine spezifische Bewegung. Es gibt sehr viele gute Künstler, aber wir haben unterschiedliche Gedanken und Ideen. Dennoch haben wir natürlich davon profitiert, daß man den Fokus auf uns gerichtet hat. Viele Künstler wurden überhaupt erst wahrgenommen oder hatten plötzlich Erfolg, und vor fünf Jahren hat das noch Spaß gemacht. Aber nach einer Weile frustiert es, wenn du immer noch ein Young British Artist bist, denn ich fühle mich gar nicht mehr so jung. Natürlich bin ich noch jung, ich bin 31 Jahre alt. Aber ich bin auch erwachsen geworden.

Dein Mann Jay Jopling ist einer der bekanntesten Galeristen in London. In seinem White Cube stellen viele sehr bekannte Young British Artists aus, wie Damien Hirst und Tracey Emin. Wie ist das Verhältnis unter euch Künstlern heute?

Wir sind seit langem befreundet, und das hat sich auch nicht geändert. Viele von uns haben jetzt mehr zu tun und sind viel unterwegs, aber wir treffen uns immer noch sehr oft. Wenn Tracey irgendwo ausstellt, dann gehen wir dort alle hin und unterstützen sie. Es gibt keinen Neid. Unsere Kommunikation läuft über diese Unterstützung. Wobei wir kaum über unsere Arbeiten diskutieren. Wir unternehmen eher etwas miteinander. Gestern abend war ich zum Beispiel mit Sarah Lucas unterwegs. Wir sind gute Freundinnen und sehen uns oft, aber wir reden vor allem über das Leben.

Nicht nur die jungen britischen Künstler stehen derzeit hoch im Kurs, sondern auch der junge britische Film. Was fällt dir zu Filmen wie „Ladybird, Ladybird“ oder „The Full Monty“ ein?

Einen der besten britischen Filme, den ich in diesem Jahr gesehen habe, war Gerry Oldmans „Nil by Mouth“. Es ist ein Film über seine Kindheit und seine frühen Jahre in London. Es ist wirklich ein phantastischer Film im Stil von John Cassavetes. Er ist sehr realistisch, sehr hart, aber für ihn, der jetzt eine Art Hollywoodstar wird, ist es sehr mutig, einen solchen Film zu drehen, einen derartig häßlichen Charakter darzustellen. Amerikanische Filme müssen immer einen guten Ausgang haben, als ich aus diesem Film herauskam, war ich völlig niedergeschlagen.

„The Full Monty“ war der lustigste Film, den ich im letzten Jahr gesehen habe. „Ladybird, Ladybird“ habe ich nicht gesehen. Aber der Film ist eine ebenso starke Bewegung wie die Kunst, und es gibt große Unterschiede. Auf Filme wie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ oder die englischen Historienfilme nach Jane Austen stehe ich beispielsweise überhaupt nicht.

Welche Filme beeinflussen deine Arbeit stärksten?

Ich mag John Cassavetes sehr, seine Improvisationen, seine langen Einstellungen, die Zeit lassen, Gefühle zu verstehen. Sie haben einen großen Einfluß auf meine Arbeit. Und Andy Warhols Filme. Er war ein Genie. Er war einer der ersten Realzeitfilmer, der Situationen so lange filmte, bis sie am Ende waren. Das war brillant. Zum Beispiel „Empire“. Das ist wie Malerei, weil die Kamera nur auf das Empire State Building gerichtet ist und das Licht- und Schattenspiel festhält wie in einem Gemälde. Der Film ist viel besser als seine Bilder.

Interessiert dich alte Kunst, Tafelmalerei?

O ja, zur Zeit beschäftige ich mich sehr intensiv mit Caravaggio und Ikonenbildern. Ich arbeite damit an einer neuen Serie. „Five Revolutionary Seconds“ ist schon eine Arbeit, die sich mit diesem unteren Teil von Heiligenbildern auseinandersetzt. Ich will Stationen aus dem Leben von Menschen auf einer unteren Ebene sichtbar machen.

Untere Ebene? Hast du „Titanic“ gesehen?

Ja, ich liebe ihn, er ist phantastisch. Filme wie „Titanic“ muß man einfach gut finden: Du bezahlst fünf Pfund für einen Film, der 200 Millionen Pfund gekostet hat, und da hast du das Gefühl, du erhältst wirklich was für dein Geld. Interview: Petra Welzel