Nach dem Mauersprung wartete ein Frühstück

■ Als die Polizei am 1. Juli das Gelände räumte, kletterten 180 Menschen über die Mauer.Die DDR-Führung, darauf vorbereitet, nutzte die Massenflucht zur Propaganda, die Stasi zur Anwerbung

„Möchtest du gern ausreisen oder lieber hierbleiben“, war die Frage, die die Volkspolizisten bei der Personalienaufnahme gestellt hätten, erinnert sich einer der Akteure. Daß der Weg nur retour gehen könnte, war für die 180 Menschen selbstverständlich, die kurz zuvor von West nach Ost über die Mauer geklettert waren. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht, in der Trommeln dröhnten und mit Spannung auf die heranrückenden Räumungstrupps der West-Berlienr Polizei gewartet wurde, schien selbst diese absurde Frage nur Teil einer unwirklichen Inszenierung zu sein.

Als die Polizei im Morgengrauen heranrückte, wurden die vorbereiteten Leitern an die Mauer gestellt. Den stählernen Zaun vor der eigentlichen Mauer hatten die Mauerspringer bereits vorsorglich abmontiert. „Als ich von oben runterguckte, habe ich gedacht, ich muß sterben, wenn ich da runterspringe“, berichtet ein Teilnehmer. Wenig später aber fuhr die Volkspolizei mit offenen Lastwagen vor, auf die man von der Mauerkrone aus bequem absteigen konnte. Akkurat organisiert war auch der weitere Verlauf. Alle West-Flüchtlinge wurden zu einem Verwaltungsgebäude gebracht, wo bereits ein üppiges Frühstück vorbereitet war. Anders als gegenüber den eigenen Bürgern waren die DDR-Grenzer bemüht höflich zu den Gästen. Nach der Personalienfeststellung wurden die Kubat-Besetzer dann zum S-Bahnhof Friedrichstraße gebracht – der einzigen Stelle im geteilten Berlin, wo ein Grenzübertritt von westlicher Seite nicht zu kontrollieren war.

Von ungefähr kam die freundliche Behandlung nicht, sie war eingehend vorbereitet worden. Zehn Tage vor der drohenden Räumung habe man bereits Kontakt mit den Vopos und Vertretern des West- Berliner SED-Ablegers, der SEW, aufgenommen, berichtet Hans- Georg Lindenau. Der heutige Betreiber eines Kopierladens in der Kreuzberger Manteuffelstraße war damals einer der Organisatoren der Mauerflucht. Er habe keinerlei positive Gefühle für die DDR gehegt, schließlich habe sein Vater einige Jahre im DDR-Knast Bautzen verbracht, sagt Lindenau. Der Mauersprung war vor allem ein öffentlichkeitswirksamer Gag und die Gelegenheit, die politischen Verhältnisse der geteilten Stadt zum Tanzen zu bringen. Dabei sei die DDR-Seite ein „taktischer Partner“ gewesen, sagt Lindenau. Die Sorge, in DDR-Haft zu landen, sei rasch zerstoben. Bald sei vielmehr deutlich geworden, daß die DDR die Mauerflucht von West nach Ost propagandistisch gegen den Westen ausschlachten wollte. Deshalb seien sogar Menschen ohne Furcht vor Repression mit über die Mauer geklettert, die einst von dort geflohen oder ausgereist waren.

Unfreiwilllig blieb Lindenau selbst einen Tag länger im Ostteil als alle anderen. Kurz nach dem Grenzübertritt brach er mit einer Asthma-Attacke zusammen und wachte erst nächsten Tag in einem Krankenhaus auf – bewacht von einem Vopo, der ihn direkt zur Grenze brachte.

Der Asthma-Anfall ersparte ihm möglicherweise ein Gespräch der besonderen Art. Denn nicht nur für Verpflegung sorgte die DDR-Führung. Das Ministerium für Staatssicherheit ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, Informanten aus der West-Berliner autonomen Szene anzuwerben. Wie aus Akten hervorgeht, waren die Stasi-Offiziere schon vor der Aktion ziemlich genau informiert, wer über die Mauer klettern würde und wer davon für die Stasi interessant sein könnte. Möglicherweise hat die Stasi davon recht bald profitiert. Als kurze Zeit später das autonome Lager den Protest gegen das Treffen des Internationalen Währungsfonds in Berlin organisierte, rühmte sich die Stasi in einem Schreiben, über fünfzig Informanten in der Szene zu verfügen.

Innensenator Kewenig (CDU) schäumte über die entwischten Besetzer, doch auch aus dem linken Lager wurde die Massenflucht nach Osten kritisert. Damit mache man sich gemein mit dem autoritären DDR-Regime, das mit Sozialismus nichts mehr zu tun habe. Und der 1983 zwangsausgebürgerte Menschenrechtler Roland Jahn erinnerte daran, daß die „solidarischen Genossen“, denen die Besetzer nach dem Frühstück dankend „Hoch die Internationale Solidarität“ zuriefen, ansonsten auf jeden Flüchtlng schossen. Gerd Nowakowski