Auf den Spuren des alten Vietnam

Faszination der Provinz: Ninh Binh besticht durch märchenhafte Idylle. Wer die Natur liebt, ist hier genau richtig: bizarre Karstlandschaften, dschungelgrün umwucherte Kalkfelsen und tiefdunkle Grotten  ■ Von Andrea Kath

Spurensuche in einer der geschichtlich bedeutendsten Regionen Vietnams. Seit die Einreisebestimmungen gelockert wurden, steigt die Zahl der ausländischen Touristen Jahr für Jahr. Doch die Provinz Ninh Binh mit ihrer langen Geschichte und faszinierenden Landschaft gehört noch nicht zum Pflichtprogramm. Ihre Hauptstadt hat bis auf stinkende Fabrikschlote, einige kleine Restaurants und einfache Hotels wenig zu bieten. Doch nur einige Kilometer weiter zeigt sich Vietnam von seiner schönsten Seite. Am Dorfweiher von Ninh Hai etwa, auf dem unzählige flache Bambusboote im seichten Wasser dümpeln, mit denen die Einwohner über schmale Flußläufe zu ihren Reisfeldern gelangen. Besucher können sich für ein paar Dollar durch eine märchenhafte Landschaft rudern lassen. Die Boote gleiten durch Reisfelder und unterqueren auf ihrer Fahrt durch bizarre Karstlandschaften Grotten von bis zu 160 Meter Länge, durch die sich der Fluß vor Urzeiten seinen Weg gebrochen hat. Wie überall im Land hat der Tourismus auch in Ninh Hai bereits deutliche Spuren hinterlassen: Der kleine, lehmige Dorfplatz gegenüber der Anlegestelle ist umgeben von rasch zusammengezimmerten Restaurants und Souvenirbuden. Selbst ein Häuschen mit Wasserklosett und Toilettenpapier wurde gebaut – eine Annehmlichkeit, die außer in größeren Hotels nirgends im Land zu finden ist.

Die Landschaft mit ihren satten Reisfeldern, den dschungelgrün umwucherten Kalkfelsen und der Gesang tropischer Vögel nimmt völlig gefangen. Was immer kommt, wird gleichmütig hingenommen: etwa die Falle, in die der Reisende unweigerlich tappt, wenn ihm aus eilig aufgeknüpften Bündeln Tischdecken und andere Stickereien angeboten werden. Und ein Entkommen aus den schmalen Booten trockenen Fußes nicht möglich ist. Oder wenn sein Boot mit einem der kaum mehr zu zählenden Touristenboote an den Eingängen der Grotten zusammenprallt. Die Region verdankt ihre Entstehung dem sinkenden Meeresspiegel seit der letzten Eiszeit. Früher einmal unter Wasser begraben, ragen heute vierzig bis achtzig Meter hohe Kalktürme zwischen den Reisfeldern empor. Nur zwei Kilometer von Ninh Hai entfernt liegt Chua Bich Dong, ein Felsentempel, der schon im 13. Jahrhundert erbaut worden sein soll.

Diese Region ist die Wiege Vietnams, jenes Dai Co Viet, das übersetzt „Groß- Alt-Viet“ bedeutet. Denn hierher, in die unzugänglichen Täler bei Hoa Lu, zog sich im 10. Jahrhundert der erste König Vietnams, Dinh Bo Linh, zurück. An die prunkvollen Zeiten erinnern noch zwei Tempelanlagen, die zu Ehren von Dinh Bo Linh und seinem Nachfolger Le Dai Hanh hier bereits im 17. Jahrhundert errichtet wurden.

Keine 40 Kilometer entfernt, an den Provinzgrenzen von Ninh Binh, Than Hoa und Hoa Binh, liegt eingebettet in dieselben Kalkformationen der Nationalpark von Cuc Phuong, einer der letzten tropischen Regenwälder Vietnams. Bereits 1962 auf Initiative von Ho Chi Minh zum Nationalpark erklärt, hat sich dieses Refugium für Schmetterlinge, Fleckenroller und den vom Aussterben bedrohten Delacour-Languren bis heute erhalten können. Doch in Zeiten des ungehemmten Wirtschaftsstrebens wird heute in Vietnam kaum ein Gedanke an Naturschutz verschwendet. Seit mehr als fünf Jahren bemüht sich daher der Ökologe Tilo Nadler um den Aufbau eines umfassenden Schutzkonzeptes. Das empfindliche Ökosystem des Parks ist stark gefährdet. Der illegale Holzeinschlag und Verkauf der wertvollen Tropenhölzer auf den Märkten der umgebenden Orte schadet dem empfindlichen Lebensraum. Sind die Baumriesen erst einmal gefällt, wird die dünne Bodendecke im Nu von den tropischen Regengüssen abgespült. Zurück bleibt Karst, der sich unter dem Tropenklima nie mehr wieder mit Bäumen aufforsten läßt.

Cuc Phuong erhebt sich heute isoliert aus einer Reisebene: ein letztes Fleckchen Ursprünglichkeit und Zufluchtsort für Tiere und Pflanzen, die nirgendwo in der Umgebung mehr leben könnten. Eine holprige Straße führt zu einer 20 Kilometer im Parkinneren liegenden Zentralstation, von wo aus schmale Pfade Abstecher in den Dschungel zu eindrucksvollen Orten erlauben. Der tausendjährige Baum Terminalia myriocarpia etwa bietet zwischen seinen Brettwurzeln ganzen Schulklassen Platz. Vor allem an den Wochenenden kommen Busladungen vietnamesischer Besucher aus dem nahen Hanoi. Lärmend durchziehen sie den Urwald, begeistert von den wilden bunten Orchideen am Wegesrand, die auch in den Taschen verschwinden. Kaugummi und Bananenschalen säumen den Weg.

Der größte Teil des Nationalparks jedoch ist für Besucher tabu. Schäden für Tiere und Pflanzen sind daher kaum zu erwarten. Für Tilo Nadler ist der Tourismus hier in Cuc Phuong eine gute Sache. Nur so könne es gelingen, die Einstellung zu Natur und Umwelt gerade auch vietnamesischer Touristen langfristig zu verbessern. Allein der nahezu unberührte Primärurwald mit den alten Baumriesen und ihren beeindruckenden Brettwurzeln ist für viele ein überwältigendes Naturerlebnis. „Viele vietnamesische Touristen, die ja meistens aus der Reisfeldebene kommen“, so Nadler, „haben in ihrem Leben noch nie mehr als zehn Bäume nebeneinander gesehen.“