Alle Wunden offen

Während religiöse Fundamentalisten die Kultur zensieren wollen, versucht der Theatermacher David Maayan die Gefühlslage der Israelis ungeniert ins Bild zu setzen  ■ Von Jürgen Berger

Die Zensurversuche des fundamentalistisch-religiösen Lagers in Israel nehmen allmählich die Form einer Kampagne an. Im israelischen Parlament spielt die Minderheit innerhalb des Likud- Blocks das Zünglein an der Waage und benutzt die Machtposition, um – wie etwa nach dem Eurovisionssieg von Dana International – gezielt zu provozieren. Man ließ verlauten, daß es eine Schande für Israel sei, von einer Transsexuellen in Birmingham repräsentiert worden zu sein.

Das war Mitte Mai. Zuvor hatte es bereits einen anderen Streitfall gegeben: Die Vorzeige-Tanztruppe des Landes, die Batsheeva Dance Company, sollte bei der großen Auftakt-Festveranstaltung anläßlich der Fünzig-Jahr-Feier auftreten. Aber Israels selbsternannte Sittenrichter erhoben Einspruch, da im Laufe der Choreographie kurzfristig die Oberbekleidung fallen sollte. Der künstlerische Leiter von Batsheeva, Ohad Naharin, sagte aufgrund des Zensurversuches die Teilnahme der Truppe an der Festveranstaltung ab und reagierte damit auch auf einen eher verschämten Vermittlungsversuch Staatspräsident Eser Weizmans, der vorgeschlagen hatte, die Company solle sich in den beanstandeten Passagen doch etwas überziehen.

Zu diesem Zeitpunkt wußte Weizman noch nicht, daß er kurz darauf selbst Opfer bigotter Zensur werden sollte. Anläßlich seiner Neuvereidigung als Staatspräsident war der Auftritt eines Militär- Musikkorps mit drei singenden Soldatinnen vorgesehen, was fundamentalreligiöse Knessetabgeordnete im Likudblock so schockierte, daß sie ihren Auszug aus der Festveranstaltung ankündigten. Staatspräsident Weizman sagte daraufhin den Auftritt des Musikkorps ab und gab ein weiteres Beispiel für Kniefälle vor religösen Eiferern.

„Die westlich orientierte israelische Öffentlichkeit und vor allem Künstler und Intellektuelle haben es in den letzten Jahren versäumt, gemeinsam gegen derartige Übergriffe vorzugehen. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß der Gegner für uns immer von außerhalb des Landes kommt und wir im Innern eine Art zähneknirschendes Stillhalten üben“, sagt Gad Kaynar, Chefdramaturg des Nationaltheaters Habima und Dozent an der Universität in Tel Aviv. Er berichtet, daß die Kulturschaffenden des Landes aufgrund des Batsheeva-Falles die Festveranstaltung zur Fünfzig-Jahr-Feier boykottieren wollten. Daß am Ende doch alle auf der Bühne erschienen, hatte mit Verträgen, Konventionalstrafen und Künstlern zu tun, denen die Gagen letzlich doch näher waren als der „Kulturkampf“.

Um den gehe es in Israel inzwischen tatsächlich, meint Ohad Naharin. „Ich wollte nicht, daß unsere künstlerische Arbeit in politische Machtkämpfe gezogen wird“, begründet er die Absage der Batsheeva-Teilnahme an den Jubiläumsfestivitäten. Die Zensuroffensive der Ultraorthodoxen habe inzwischen eine neue Dimension erreicht, und der tiefe Riß in der israelischen Gesellschaft zeige sich offener als jemals zuvor. Und das hört sich so an, als käme ihm die neue Konfrontation gelegener als die bisherige Vertuschung der gesellschaftlichen Gegensätze.

Etwas ist in Bewegung geraten. Mitte Mai protestierten Dutzende von Studenten der Jerusalemer Kunstakademie mit einer Plakataktion gegen Eingriffe in die Kunstfreiheit und wagten sich mit ihrem Protest mitten in ein Wohngebiet orthodoxer Juden. Das Ergebnis war ein Handgemenge mit den Anwohnern und könnte Auftakt für eine offene Opposition gegen das sein, was David Maayan die „Chomenisierung des Landes nennt“.

Der fünfundvierzigjährige Mayaan gründete vor vierzehn Jahren das Akko-Theaterzentrum im Norden Israels und entwickelt seither eine poetische Form des Living Theatre. Vor sechs Jahren führte er in „Arbeit macht frei“ die Möglichkeit eines inszenierten Holocaust-Gedenkens vor. Nach zweijähriger Recherche- und Probenarbeit legt er jetzt ein neues Projekt vor und reflektiert Israel im fünfzigsten Jahr der Staatsgründung in Form einer kaleidoskopischen Peepshow.

In „Man muß glücklich sein“ (eine Produktion, die ab morgen bei den Wiener Festwochen zu sehen ist) wird dem Zuschauer ein zersplittertes Land präsentiert, dessen Individuen wie Isolationshäftlinge in Glaszellen sitzen. In jeder Zelle hängt ein Monitor, auf dem immer wieder das Gesicht eines Schauspielers im Close-up erscheint. Er werde die Gemeinde nach Jerusalem führen, säuselt dieser in endlosem Lamento, als sei er einer jener Rabbiner, die die Uhren in Israel zurückstellen möchten.

Die Gemeinde, das sind in diesem Fall Kleingruppen von Zuschauern, die schon am Kartenschalter die israelische Realität unzähliger Kontrollen an allen Grenzpunkten wiederfinden. Wie man hierhergekommen sei, welche Kontakte man gehabt habe und ob man tatsächlich ins Theater wolle, wird man examiniert.

Und wie man das Theater überhaupt gefunden habe, was durchaus eine berechtigte Frage ist, da an der Stadtmauer der alten Kreuzrittermetropole Akko kein Schild den Weg weist. Wer Maayans poetische Realitätssondierungen sehen will, muß zuerst einmal selbst das Terrain sondieren. Sollte er das Theater nicht finden, hat er eben Pech gehabt. Das ist Programm, hat allerdings auch damit zu tun, daß das Akko keine Werbung nötig hat. Die Szene pilgert gen Norden und muß das auch, da die Akko-Aktivisten entgegen der israelischen Konvention keine Gastspiele innerhalb des Landes geben.

Nach der Kassenkontrolle geht es im Maayanschen Spiegelkabinett in kleinen Gruppen und auf unterschiedlichen Routen durch enge Gänge und vorbei an gläsernen Zellen, in denen die Akteure des Abends als Glückssucher delirieren. Das wirkt, als würden sie mit einem Fieberthermometer all die Deformationen, Selbstbehauptungen und hysterischen Überspanntheiten im Patienten „Israel“ messen, die auch das ganze Land wie einen Dampfdrucktopf kurz vor der Explosion wirken lassen.

Seit der Ermordung Rabins droht Israel auseinanderzufallen. Ein Wendepunkt in der jüngsten Geschichte, der im Zentrum von Maayans neuer Wirklichkeitsexkursion steht. „Die tödlichen Schüsse auf Rabin waren eine innere Explosion, die allerdings nur zu Tage förderte, was versteckt schon da war“, sagt der Regisseur. Und meint damit: „Die tiefe Spaltung des Landes in einzelne Lager wie links und recht, religiös und weltlich, und daß die israelische Gesellschaft wegen dieser inneren Zerissenheit ein Feindbild wie die Palästinenser braucht. In Wirklichkeit haben wir kein Problem mit den Palästinensern, sondern nur mit uns selbst. Hier hat ja jeder Angst, alleine zu sein, beobachtet deswegen den anderen ganz genau und ist daher erst recht einsam. Das Bild für die Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft ist eine hohe Mauer, hinter der ein noch höherer Turm steht. Und in dem Turm leben wir auf engstem Raum zusammen und spähen ins feindliche Gebiet.“

Maayans Blick in die Tiefen der israelischen Seele ist wohl deshalb so frappierend, weil er zwar das Innere seiner Figuren schonungslos nach außen kehrt, trotzdem aber ein pathetischer Aufklärer und liebender Zeitgenosse bleibt. Er zeigt auf die Kraterlandschaft, vergißt aber die unversehrten Ecken nicht.

So läßt er seine Akteure auch singen und tanzen. Auf einer kleinen, zentralen Drehbühne, um die die Zuschauer wie in einer Peep- oder Karaokeshow stehen, wedelt beispielsweise eine Schauspielerin herzzerreißend mit Schnulzen und Popsongs und versucht zum Mitmachen zu animieren. Mal sehen, ob das Publikum in Wien oder Weimar (wo „Man muß glücklich sein“ Ende Juni und Anfang Juli beim Kunstfest zu sehen sein wird) darauf eingeht.

Israelis jedenfalls reagieren prompt, und wer einmal am Sabbat an den Strand von Tel Aviv ging, weiß warum. Freitagabend beginnt der jüdische Sonntag, Strenggläubige kapseln sich mit ihren Familien in der Gemeinde ab, während der moderne Israeli an den Strand geht – und plötzlich mit allen anderen im Kreis steht, die Hände des acht- oder achtzigjährigen Nebenstehenden faßt und zu tanzen beginnt. Die Musik kommt alle paar hundert Meter neu aus improvisierten Stranddiscos, die Schritte und Formationen des folkloristischen Gemeinschaftstanzes stammen aus der Pionierzeit des Landes, und jeder scheint sie bereits im Windelalter zu beherrschen.

Maayan, der die Zuschauer auf die Kippe von Sein und Schein führt und die Grenzen von Wahrheit und Lüge durchleben läßt, spielt auch hier mit der Mentalität seiner Landsleute, lockt sie immer wieder in die Emphase gemeinsamer Selbstvergewisserung, mischt in die Lieder dann aber doch wieder dunkle Untertöne. „Zu den erfreulichen Seiten Israels gehört, daß wir trotz realer Bedrohungen immer wieder ganz einfach versuchen, eine gute Zeit zu haben. Dagegen ist nichts einzuwenden, da das gemeinsame Singen und Tanzen auch bedeutet, über Folklore eine Tradition des modernen Israels zu erschaffen“, erklärt er. „Andererseits soll in den Songs aber auch durchscheinen, daß an unseren Grundmauern etwas fault und unsere Ausgelassenheit wirkt, als würden wir einen kranken Freund ins Krankenhaus begleiten und Frohsinn verbreiten, obwohl wir nicht so genau wissen, ob er unter Umständen bald stirbt.“

Maayan sagt das, während er sich schon auf den Flug nach Wien vorbereitet. Daß europäische Theaterfestivals ihn inzwischen umwerben, dürfte kaum der Grund für die Zurückhaltung der Zensurrabbiner aus den Thoraschulen sein, die sein Theater bisher noch nicht ins Visier genommen haben. Wahrscheinlicher ist, daß der Theaterraum im Norden den Sittenrichtern zu klein und unbedeutend vorkommt. Sollten sie demnächst trotzdem zum Angriff blasen, würde sich Maayan davon wohl kaum beeindrucken lassen. Der Mann hat zwar ein poetisches Naturell, wirkt andererseits aber durchaus selbstsicher und in sich ruhend.

Auf die Frage, ob er sich nicht doch vorstellen könne, bei einem entsprechenden Angebot eines großen europäischen Theaters zum Beispiel ein Stück von Shakespeare zu inszenieren, beharrt er auf dem Begriff des Autorentheaters, so wie er es versteht: ausschließlich seine eigene Ideen zusammen mit seinen Schauspielern realisieren. Nichts anderes hat Shakespeare gemacht.

Theaterzentrum Akko: „Man muß glücklich sein“. Texte und Regie: David Maayan. Mit: Naama Shapira, Grace Shushner, Angelika Kisser-Maayan u.a.

Zu sehen am 10., 11., 14., 15., 17. Juni bei den Wiener Festwochen und am 25., 28., 29. Juni. sowie 1. und 2. Juli beim Weimarer Kunstfest