Ehrlich wie das Blubbern des Gedärms

■ Der französische Theaterterrorist Valère Novarina las laut im Jungen Theater

hre Fantasie ist gefragt. Stellen Sie sich vor: die Resl von Konnersreuth kurz vor der definitiven Marienerscheinung, alternativ dazu vielleicht einen Schlafwandler oder einen Geisterbeschwörer; ja genau: grimmiger, weggedrifteter Blick, bewegungsloser Körper, weit nach vorne gestreckte Arme in Kopfhöhe. Diese Arme tragen ein paar Manuskriptblätter wie ein Banner vor sich her. Vielleicht hat Moses die Gesetzestafeln in dieser verzückt-spastischen Haltung in Empfang genommen. Jedenfalls liest und zelebriert der französische Dramatiker und Theaterphilosoph Valère Novarina seine komplizierten, sprunghaften Texte mit diesem nicht gerade natürlich zu nennenden Gebaren. Angst vor Peinlichkeit hat er jedenfalls nicht; dies ist anzuerkennen.

Hinter der drastischen Inszenierung steckt eine Theorie, natürlich. Es ist eine große Theorie, systemsprengend mindestens, die herrschenden Theaterformen vernichtend, sowieso. Novarina ist der letzte Moderne mitten in Zeiten der Postmoderne. Ein Wiedergänger Antonin Artauds. In Frankreich war ihm das seltene Glück gegönnt, einen echten Jünger zu finden. Der Schauspieler André Marcon setzte sich hartnäckig für ihn ein. Noch vor ein paar Jahren war Novarina des öfteren Gast beim Theaterfestival in Avignon. Bernd Sucher, der Haupttheaterzensor der SZ, nannte ihn „die größte Hoffnung des französischen Theaters“. Im Jungen Theater aber stellte sich nur eine Handvoll Hardcore-Theaterfreaks ein, um Navarina und seinem deutschen Übersetzer zu lauschen. Schade.

Über Sprache kann man viel sagen. Aber egal, ob man sich jetzt in der Transformationsgrammatik, in Wittgensteins Sprachspieltheorie oder Handkes Kaspar Hauser-Drama über die Zurichtung eines Menschen durch Floskeln bewegt: Gemeinhin gilt Sprache als das Tor, das Gesellschaft und Individuum miteinander verbindet; sei's daß der einzelne durch Sprache diszipliniert wird oder gestaltend auf die Umwelt einwirkt.

Novarina aber sucht nach einer Sprache vor jeder Kommunikation, einer Sprache, die ein unmittelbarer unverfälschter Ausfluß körperlicher Spannungen ist, direkt und ehrlich wie (angeblich) Schweiß, Blut, Sperma. Die Sprache als immaterielles Stoffwechselprodukt. Ohne Ende ziehen sich physiologische Metaphern aus dem dunklen Höhlensystem zwischen Vagina und Bauch durch Novarinas Hymnen an die Sprache.

Als ob es etwas Elementares im Menschen vor aller Gesellschaft gäbe; als ob sich ausgerechnet im Blubbern zwischen Niere und Enddarm das Eigentliche verstecke. (Andere kämpfen gegen Magengurgeln an mit Sauerkraut und Verdauungstabletten.) Dieses romantisch-ekstatische Konzept kann gar nicht funktionieren. Spannend ist es dennoch.

Vom Theater erwartet Novarina ein „Intensitätsschauspiel statt eines Intensionsschauspiels.“ Statt Inhalte vermitteln zu wollen, muß der Schauspieler „die Muskel- und Atemstellung begreifen, aus denen es sich schrieb“. Dieses körperliche Aneignen von Texten fordert „Verausgabung“, „Auflösung“, „totale Verzweiflung“, „das Überschreiten einer Schwelle“. Soviel Einsatz wird dem Schauspieler natürlich nicht abverlangt ohne ein veritables Ziel. Es geht darum, „die Körper (der Zuschauer) wirklich zu erreichen und zu verwandeln.“ Fragt sich nur: Wohin?

Schneisen in den Körper schlagen sich Novarinas Texte durch surrealistische Methoden (Sprunghaftigkeit, Assoziativität) aber auch durch das gute alte Lyrikhandwerk, Binnenreime, Wortstammähnlichkeiten etc. Der Weg in den Körper scheint am Kopf nicht vorbeizukommen. Wie Joyce oder Arno Schmidt treibt Novarina eine kindliche Freude zu Wortneuschöpfungen (“nickeln und stecheln“) und Kinderreimigkeit („will nicht beißen, will bloß heißen“).

Auch in Deutschland hat Novarina einen altruistischen Propheten gefunden. Er heißt Leopold von Verschuer, ist als Schauspieler genau, als Übersetzer zäh, als Gesprächspartner bescheiden, angenehm, interessant. Novarinas theatertheoretischen „Brief an die Schauspieler“ und „Für Louis de Funes“ hat er mit einem feinen Gespür für das, was in Rapperkreisen „Flow“ heißt, ins Deutsche übertragen.

In Frankreich, erzählt er, werden diese Texte von allen halbwegs aufgeschlossenen Schauspielschülern rezipiert. Durch die Theaterstücke, die zumeist in einer unrealisierbaren Mammutfassung (bisweilen für 3.099 Personen) und einer Kurzfassung existieren, fängt er gerade an, sich durchzuwursteln.

Die Stärke Novarinas, meint er, ist das Aufnehmen unterschiedlichster Einflüsse, von den Mystikern über Rabelais bis zur art brut Dubuffets. Ähnlich wie der schizophrene Künstler Adolf Wölfli ergeht er sich in litaneienhaften Auflistungen von Fluß- oder Städtenamen. Dann verflüssigt sich Sprache zu Musik. Dann gerät Verschuer ins Schwärmen. Dann wird der seltsame Kauz Novarina spannend. Vielleicht ist er doch ein unerkanntes Genie. bk