Von der Spitzengenossin zum Bauernopfer

Ingrid Stahmer – noch immer die bekannteste Politikerin der Stadt – liegt bei der Beurteilung ihrer Arbeit im soliden Mittelfeld. Doch ihre Partei, die SPD, sägt unermüdlich am Stuhl der früheren Spitzenkandidatin. In ihrer Verwaltung fehlt ihr die nötige Autorität  ■ Von Barbara Junge

Das rote Kostüm war weit und breit nicht zu sehen. Im Pulk der 320 GenossInnen keine Ingrid Stahmer. Wegen einer schulpolitischen Konferenz in Bonn tauchte sie auf dem SPD-Parteitag am vergangenen Wochenende erst am späten Samstag ins sozialdemokratische Parteileben im Palais am Funkturm ein. Genützt hat das der Senatorin für Schule, Jugend und Sport nichts.

„Die Schulpolitik zeigt deutliche Erfolge“, eröffnete der mächtige Fraktionsvorsitzende Klaus Böger am Freitag abend den Angriff auf die Senatorin, „aber es ist so, daß die Erfolge nicht überall sichtbar sind.“ Erst ein Auftakt. „Die Bildungspolitik ist einer der Bereiche, in dem sich zuwenig von dem, was wir auf Parteitagen beschließen, wiederfindet“, legte die Parteilinke im SPD-Vorstand, Monika Buttgereit, nach. „Wir sind unzufrieden, wie sie ihr Amt führt“, faßte der schulpolitische Sprecher der SPD, Peter Schuster, dann zusammen, worum es geht.

Ingrid Stahmer ist nach dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) die bekannteste Politikerin der Stadt. Nach den letzten Umfragen kennen immerhin 81 Prozent der BerlinerInnen ihre Senatorin für Jugend, Schule und Sport – während lediglich 36 Prozent den Fraktionschef Klaus Böger und nur 33 Prozent den SPD-Parteichef Detlef Dzembritzki kennen. In der Beurteilung ihrer Arbeit liegt sie mit der Note 3,4 im vorderen Mittelfeld, direkt hinter Klaus Böger (3,3) und gleichauf mit Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (3,4). Und dennoch scheint eines klar: Auf dem Schachbrett der Berliner Sozialdemokratie ist kein Platz mehr für Ingrid Stahmer.

War diese Ingrid Stahmer nicht einmal Spitzenkandidatin ihrer Partei? Wollte Regierende Bürgermeisterin werden? Heute will Klaus Böger, der Oberlehrer, ebenso wie der Zampano der Partei, Walter Momper, im kommenden Jahr Regierender Bürgermeister werden. Und die starke Frau im Team, diese klassische SPD- Rolle, hat inzwischen Annette Fugmann-Heesing übernommen. Ingrid Stahmer hat nur die Loser- Rolle abgekriegt – und füllt sie mit Bravour aus.

Der Senatorin für Schule, Jugend und Sport ist es gelungen, sich sowohl in der Partei als auch bei den Funktionären ihres Themenbereichs gänzlich unbeliebt zu machen: mit ihrem denkwürdigen Vorschlag, die Sportförderung in Berlin ganz abzuschaffen; mit dem Chaos, das die späte Aufstellung von Stundenplänen 1996 in den Berliner Schulen veranstaltet hatte; mit den Verträgen über Großsporthallen, die sich als Faß ohne Boden entpuppen. Mit ihrem Ausscheren aus der treuen Reihe sparwilliger SozialdemokratInnen. Oder mit ihrem neuerlichen Vorstoß, grundständige Gymnasien stärker zu fördern. In ihrer bislang dreijährigen Amtszeit ist es Ingrid Stahmer dagegen nicht gelungen, sich die nötige Autorität zu verschaffen. „In der schwarzen Verwaltung, die ihr Vorgänger als Senator, Jürgen Klemann (CDU), hinterlassen hat, nimmt Ingrid Stahmer keiner ernst“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin der Verwaltung. „Sie kann da eigentlich tun oder auch lassen, was sie will.“

Nicht erst seit dem Wochenende ist die Kritik aus der Partei an Stahmer offenbar. Doch was bislang in sachlichen Auseinandersetzungen um die Sparpolitik oder um das sechsjährige Grundschulsystem daherkam, schlug vor den versammelten 320 Delegierten am Wochenende in massive offene Angriffe um. „Das war eine billige Gelegenheit für Böger und Dzembritzki, ein bißchen Stimmung zu machen“, urteilt eine Sozialdemokratin; „im Wissen, daß sie selbst ziemlich blaß wirken, haben sie den Unmut auf Ingrid Stahmer umgelenkt.“ Nur mit großer Mühe hatte die Parteispitze um Böger und Dzembritzki bewerkstelligen können, daß die amtierende Führung auch weiter im Amt bleibt. An der Kritik gegen Stahmer ändert das nichts. „Die Kritik ist in der Partei ganz breit vorhanden“, berichtet SPD-Vorstandsmitglied Klaus-Uwe Benneter, „der Eindruck besteht, daß sie, was an sozialdemokratischen Ansätzen da ist und was nicht einmal Geld kosten würde, überhaupt nicht umsetzt.“ Andere SozialdemokratInnen gehen härter mit ihrer Senatorin ins Gericht: „Wenn sie nur irgendwelche Vorschläge machen würde, wenigstens in Ansätzen kreativ wäre. Sie würde jede Unterstützung bekommen“, versichert eine Genossin.

Doch Ingrid Stahmer sieht sich nun als Opfer parteiinterner Machtkämpfe. Der Unmut über die Lage der Partei werde auf ihrem Rücken ausgetragen. Schulpolitische Klarheit gebe es bei der SPD ohnehin nicht. „Die einen um Klaus Böger und den Haushaltspolitiker Klaus Wowereit sagen, sie spart zuwenig“, heißt es in Stahmers Verwaltung, „die andere Hälfte der Partei sagt, sie spart zuviel.“ Zwei Hälften einer Partei, die sich nicht einig würden. „Diese innerparteilichen Kämpfe haben nur eines gemeinsam: das persönliche Feindbild Ingrid Stahmer.“

In hellen Momenten weiß auch Ingrid Stahmer selbst, daß sie nicht jede Kritik aussitzen kann. Intern gibt sie längst zu: Sie wird gemobbt in der Partei, in ihrer eigenen Verwaltung, kann sich nicht durchsetzen. Sie beginnt zu zweifeln, ob sie am richtigen Platz sitzt.

Ihre Senatskollegen bezweifeln das schon lange. Nur knapp konnte sich Stahmer 1995 als Ressortchefin für Schule gegen Dzembritzki durchsetzen. Und nur knapp schlittert sie seitdem daran vorbei, bei einer Senatsumbildung aus dem Kabinett zu kippen. Bei der SPD wie beim Koalitionspartner CDU gilt Stahmer als Ausgleichskandidatin für einen möglicherweise abtretenden CDU- Wirtschaftssenator Elmar Pieroth. Immer nach der Devise: „Ihr einen weniger, wir eine weniger.“

Noch ist Stahmer indes nicht bereit, das Bauernopfer zu spielen. „Ich habe ein dickes Fell. Und wenn diese SPD-Spitzengenossen aus persönlichen Profilierungsgründen eine Senatorin anschwärzen müssen, dann ist das genau das, was Klaus Böger in seiner Rede gesagt hat: Wir sind bekloppt, wenn wir unsere Erfolge kleinreden.“ Deshalb steht für sie eines felsenfest: „Ich denke gar nicht daran, zurückzutreten.“

Wenn aber Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD) nach der Bundestagswahl im September wirklich nach Bonn wechselt, steht auch in Berlin eine Senatsumbildung an – dann dürfte wohl auch wieder über Ingrid Stahmer debattiert werden.