■ Märchen der Fremdheit: Von den Chilenen, die auszogen, die Wurst zu besiegen und in Deutschland landeten
: Mais fürs Schwein für Schweinewurst

Dieses ist eine Geschichte meines Vaters, eine Mischung aus Wirklichkeit, Erfindung und Übertreibung, die er immer wieder gerne erzählte, wenn es um Anekdoten der im Exil lebenden Chilenen in Europa ging.

Die Unterkunft, in der die Protagonisten dieser Erzählung untergebracht waren, lag am Rand einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Die Chilenen waren zu jener Zeit die größte Gruppe, darunter alleinstehende Frauen und Männer, Paare, Familien. Einige waren schon vor mehreren Monaten angekommen, andere erst vor ein paar Wochen. Keiner wußte, wie lange sie dort bleiben würden, in diesem Lager und überhaupt in Deutschland, keiner wußte, wie lange die Diktatur in Chile dauern würde.

Da es wenig zu tun gab, gingen sie oft spazieren. Man flanierte die kleinen Straßen entlang, zwischen den Feldern, und unterhielt sich über das unglaublich ferne und doch nahe Chile und über das noch sehr fremde und rätselhafte Deutschland; man machte Prognosen über die Entwicklung der Diktatur, stellte sich das Leben in diesem neuen Land vor, und wenn die Stimmung sehr gedrückt war, herrschte Schweigen.

In der letzten Zeit aber war die Stimmung gut. Der heftige Winter war schon definitiv vorbei, und seit ein paar Wochen war es ununterbrochen sonnig und warm. Ein richtiger Sommer, wie es ihn in Chile gibt, war es zwar nicht – in diesem Punkt waren sich alle einig –, aber immerhin war das Wetter gut. Unter dem blauen Himmel war das Spazierengehen eine sehr angenehme Art, die Zeit zu vertreiben.

Da es sommerlich war, drehte sich das Gespräch der sechs spazierenden Männer an diesem Nachmittag um humitas, porotos granados, pastel de choclo, ensalada a la chilena und andere Gerichte, die in Chile fast ein kulinarisches Synonym für Sommer sind – für die Saison der Tomaten, der Melonen, der Pfirsiche, der Nektarinen und des Mais.

Eigentlich konnte man sich über das Essen in Deutschland nicht beschweren. Als Asylbewerber bekamen sie zwar nicht soviel Geld, aber zum Glück konnte man in diesem kleinen Supermarkt in der Nähe des Lagers sehr billig einkaufen. Hauptsächlich gab es dort Dosenware, Milchprodukte und Aufschnitt, jede Menge Aufschnitt.

Nicht umsonst waren die Deutschen in Chile berühmt für ihren guten Aufschnitt. Jeder Neuankömmling begeisterte sich ausnahmslos für diese breite Auswahl. Schade nur, daß, wenn man sich monatelang fast nur von ihm ernährt, selbst die leckerste Wurst nicht mehr schmeckt. Natürlich aßen sie auch andere Sachen, aber Aufschnitt gab es immer ... oder zumindest fast immer.

Mit Kopf und Mund voller kulinarischer Phantasien gingen die sechs Männer weiter durch die Felder. Nach verschiedenen Fischgerichten waren sie auf ihrer Reise durch die chilenische Gastronomie beim Mais gelandet, dem pastel de choclos, den humitas und der einfachsten Version, dem gekochten Mais mit Butter. Als ob es ein Wunder wäre, sahen sie plötzlich ein Feld, das von oben bis unten mit Mais bepflanzt war.

Alle sechs Männer dachten sofort an dasselbe, einige lehnten die Idee aber sofort ab: „Das dürfen wir auf gar keinen Fall machen.“ – „Natürlich nicht. Wir sind Flüchtlinge, denen Deutschland seine Solidarität angeboten hat. Das wäre nicht korrekt.“ Andere sahen es weniger eng: „Das stimmt schon... Aber stellt euch mal vor, humitas, humitas, so, wie es sich gehört, in Maisblätter eingewickelt...“ – „Also, ich finde, daß man nicht so ein Prinzipienreiter sein sollte. Was sind schließlich ein paar Kolben mehr oder weniger für dieses große Land? Es wird bestimmt keiner merken.“ Dagegen wehrten sich die anderen: „Niemand wird es merken, da hast du recht. Mir geht es aber genau um das Prinzip.“ „Mir wiederum geht es um die humitas oder um bloße Maiskolben mit Salz und Butter“, versuchte ein anderer den Vertreter der orthodoxen Linie zu überzeugen.

Nach einer Weile des Hin und Hers zwischen Prinzip, Versuchung, Recht, Dankbarkeit, Heimweh und Moral gingen drei der Männer ins Heim zurück, und die anderen schlichen sich auf das Feld. Ohne sich wirklich vom Schamgefühl befreit zu haben, wuchs in ihnen zugleich eine fast kindliche Erregung, ein Geschmack von Abenteuer, der mit jedem Schritt ins Grüne größer wurde.

Kaum hatten sie den ersten samtenen Kolben in der Hand, wurden die Männer von einem Geräusch aufgeschreckt. Obwohl keiner von den dreien mehr als nur ein paar Worte auf deutsch sagen konnte, verstanden sie alle, als jemand von irgendwoher schrie: „Halt! Wer ist da? Was machen Sie da?“ In weniger als einer Minute stand der Bauer vor den erschrockenen Chilenen. Sie erholten sich nur langsam von dem Schock und versuchten dann, ihm mit Händen und Füßen all jenes über den Sommer, das Exil, die Tomaten, das Heimweh und die humitas zu erklären.

Der Bauer verstand so gut wie gar nichts. Chile sagte ihm wenig, Pinochet und sein Putsch noch viel weniger. Aber er verstand, daß er keine richtigen Verbrecher vor Augen hatte, daß irgend etwas mit der Ernährung dieser Leute nicht stimmte. Die bloße Idee, daß jemand nicht genug zu essen haben könnte, ist für einen Menschen vom Land unerträglich. Ohne darauf zu achten, daß die Chilenen sehr wenig Deutsch sprachen, erklärte er ihnen, daß der Mais Tierfutter war, nur für Schweine geeignet, hart und geschmacklos. Dann bat er sie, zu ihm hereinzukommen. Die irritierten Männer gingen zuerst ins Badezimmer, weil sie nach all der Aufregung von oben bis unten durchgeschwitzt waren. Zehn Minuten später kamen sie ins Wohnzimmer, wo der Bauer sie gut gelaunt in die Küche bat. Da wartete auf sie ein für vier Personen gedeckter Abendbrottisch, der sich unter einem Berg von Würsten bog. Paulina Iriarte Rivas