Eine Stadt mit Eigenschaften

Neubauviertel. Wer als Großstädter etwas auf sich hält, würde hier nicht tot übern Zaun hängen wollen. Die gesichtslose Stadt beklagten schon in den sechziger Jahren Philosophen und Architekten. Städtisches Leben spielt sich, wenn überhaupt, höchstens in gewachsenen Altbauvierteln ab, die Charme besitzen und Atmosphäre ausstrahlen. Dabei sind städtische Dichte und urbanes Miteinander nicht unbedingt auf alte Gründerzeitquartiere angewiesen. Auch mit Neubauten kann eine Stadt ein heimatliches Gesichterhalten. Das soll ein Modellprojekt in der Tübinger Südstadt beweisen. Dort entsteht derzeit das ambitionierteste städtebauliche Vorhaben der Republik. Auf einem sechzig Hektar großen, früheren Kasernengelände soll Urbanität in neuen Fassaden einen Platz erhalten. Das Ziel: eine richtige Mischung – sozial und baulich  ■ Von Uwe Rada (Text) und

Joachim E. Röttgers (Fotos)

Baustellentourismus ist es nicht, der die Tübinger zum Lorettoplatz zieht. Anders als in Berlin steht in der Tübinger Südstadt auch keine Infobox, in der die Wirklichkeit der Stadt durch Simulation ersetzt wird. Der Lorettoplatz ist bereits wirklich, noch bevor er zum Ende des Jahres fertig sein wird.

Auf der Nordseite des neuen Platzes treffen sich Studenten, Bauarbeiter und Angestellte im Biergarten einer Selbsthilfekneipe, die wie die benachbarte Werkstatt von Behinderten betrieben wird. Gleich daneben hat die Volkshochschule ihre Räume gefunden. Hinter dem Biergarten soll demnächst ein „Vorstadttheater“ entstehen, und auf der Südseite des Platzes wachsen Neubauten aus dem Sand, keine Betonmonster, sondern individuelle Häuser für kollektive Ansprüche.

Schließlich soll im städtebaulichen Entwicklungsvorhaben „Französisches Viertel/Stuttgarter Straße“ keine herkömmliche Wohnsiedlung entstehen, keine Gartenstadt und kein Gewerbegebiet, sondern Stadt als komplexes Gebilde, mit all ihren Stärken und Problemen, eine Stadt mit einer kleinteiligen Nutzungsmischung und großzügigen öffentlichen Räumen, wie man sie sonst nur aus den Quartieren der Gründerzeit kennt. Und das auf einem Gebiet, das mit sechzig Hektar fast doppelt so groß ist wie die Tübinger Altstadt.

„Die Gelassenheit der eigenschaftslosen Stadt wird durch die Evakuierung der öffentlichen Sphäre erreicht, wie bei einer Feuerwehrübung“, schrieb der niederländische Architekt und Stadttheoretiker Rem Kolhaas in seinem Aufsatz „Stadt ohne Eigenschaften“: Die eigenschaftslose Stadt lockere alle Strukturen, die in der Vergangenheit für den Zusammenhalt der Dinge gesorgt hätten, meinte er. Ganz postmoderner Beobachter der Auflösung von Städten, vermied es Kolhaas, sich in diesem „Manifest“ bezeichneten Text zu möglichen städtebaulichen Utopien wider die „Eigenschaftslosigkeit“ zu äußern.

Ganz anders dagegen Andreas Feldtkeller. Der Autor des vielbeachteten Buches „Die zweckentfremdete Stadt“ setzt als Gegenentwurf zu den zentrifugalen Kräften der Globalisierung ganz auf die Wiederentdeckung des Ortes, einer „Stadt mit Eigenschaften“: In Zukunft müsse sich die Vielfalt der Bedürfnisse und Vorlieben wieder mehr in kleinmaßstäblichem Wildwuchs, in Nischen, in der Mobilisierung von räumlichen Ressourcen ausleben, fordert Feldtkeller. „Dies ist innerhalb einer innerstädtischen Grundstruktur möglich, in der die Stadtkultur die Maßstäbe setzt – im Gegensatz zur privatisierten Stadt, wo alles seine (privat-)wirtschaftlich motivierte Ordnung hat, wo alles einsortiert, funktional begründet und legitimiert ist.“

Im Unterschied zu Kolhaas ist Feldtkeller aber nicht in erster Linie Theoretiker, sondern seit mehr als 25 Jahren ein ausgewiesener Praktiker. Bereits in den siebziger Jahren war der in Berlin geborene Architekt und Stadtplaner verantwortlich für die Tübinger Altstadtsanierung. Dabei ging es ihm nicht nur um die „Pietät gegenüber dem historischen Erbe“, sondern auch um die „Faszination, die zwischenmenschliches Leben auf der Straße in solchen Stadtvierteln auf uns ausübt, und die Sehnsucht, die sie in uns weckt“. Diesem Anspruch wurde Feldtkeller unter anderem mit dem Neubau des Nonnenmarktes gerecht, der nordwestlichen Begrenzung der Altstadt, die erst durch einen behutsam in die Stadt gefügten Neubaukomplex wieder zum Platz wurde und heute zu den meist frequentiertesten Orten der 85.000 Einwohner zählenden Stadt gehört.

Doch erst 1991, als die Tübinger Altstadtsanierung zu Ende war, sollte Feldtkeller die Gelegenheit bekommen, seine Philosophie einer „Stadt mit Eigenschaften“ auch außerhalb des historischen Stadtbereichs umzusetzen. Mit dem Abzug der französischen Garnison fiel der damals rot-grün dominierten Tübinger Kommunalverwaltung ein riesiges Areal in der Südstadt zu, das für die städtische Idee Feldtkellers wie geschaffen schien. Durch die Ausweisung des nur locker bebauten Kasernengeländes zum „städtebaulichen Entwicklungsgebiet“ gelang es der Kommune, das Areal dem Bund für sechzig Mark je Quadratmeter abzuluchsen.

Vor allem aber bestand Feldtkeller darauf, das Gelände der Loretto- und Hindenburgkaserne nicht aufzuteilen und an verschiedene Bauträger zu vergeben, sondern – bis heute einzigartig in der Bundesrepublik – selbst zu entwickeln. Viel Arbeit also, die sich aber lohnen sollte.

Immerhin stand mit diesem Vorhaben in der vorwiegend von Arbeitern und Studenten bewohnten Tübinger Südstadt eine der aufregendsten Fragen des Städtebaus auf der Tagesordnung: Läßt sich Stadt tatsächlich so bauen, daß sie einmal, wie die Altstadt- und Gründerzeitgebiete, von einer sozial gemischten Bewohnerschaft als privater und öffentlicher Raum gleichermaßen angeeignet wird? Oder ist die „Unwirtlichkeit der Städte“, die Alexander Mitscherlich bereits 1963 beklagte, den Neubaugebieten von vorneherein ins steinerne Gesicht geschrieben?

Im Französischen Viertel ist die Aneignung bereits weiter fortgeschritten als ursprünglich gedacht. „Block 16“ nennt sich eine Bauherrengemeinschaft, in der sich dreißig Familien und acht Gewerbetreibende zusammengeschlossen haben. Block 16 steht dabei nicht nur für ein Karree am östlichen Rand des Entwicklungsgebiets, sondern auch für eine langjährige Diskussionskultur der künftigen Nutzer, zumeist Altlinke, Lehrer – wohngemeinschaftserprobte Tübinger also. Und Tübinger mit Ansprüchen.

Wie Kurt Tucholsky in Berlin einst gerne ein Häuschen im Grünen gehabt hätte, vorne die Friedrichstraße, hinten die Ostsee, würden auch die Bauherren des Block 16 am liebsten städtisches Wohnen mit vorstädtischen Freizeitmöglichkeiten verbinden. Daß man freilich nicht alles haben kann, wird ausgerechnet an zwei Wagenburgen deutlich, die keine hundert Meter von den Altlinken entfernt ihr Domizil gefunden haben: auf einer als Naherholungsgebiet gedachten Grünfläche am Waldrand, samt Bach und Hügeln drumherum. Vor allem die vielen Hunde stören die Familien im Block 16. Sie fordern nun, daß die Wagenburg weg muß.

Ganz anders sieht das dagegen der „Block 9“. Die Selbsthelfer, die hier ein ehemaliges Kasernengebäude in Eigenregie und mit einem Großteil an privaten Mitteln ausgebaut haben, werfen den Familien im Block 16 Verrat an den eigenen Idealen vor. Reibereien unter Linken?

Für Andreas Pätz ist der Konflikt im Französischen Viertel eher ein städtischer Nutzungskonflikt. Pätz, seit knapp einem Jahr Nachfolger des in Ruhestand getretenen Andreas Feldtkeller, weiß auch, wie solche Konflikte zu lösen sind: durch Moderation. „Alle müssen an einen Tisch“, sagt er, „und dann wird solange geredet, bis es eine tragfähige Lösung gibt.“ Das Konsensprinzip der WG-Küche als Modell für ein ganzes Stadtviertel?

Pätz, der zuvor in der Altbausanierung in Leipzig-Connewitz gearbeitet hat, weiß, daß er damit viel verlangt. Aber die Bewohner der Tübinger Südstadt wissen auch, worauf sie sich eingelassen haben. „Zum Mitmachen sind alle eingeladen, die mehr suchen als Ruhe und Rückzug ins Private“, heißt es im Prospekt, mit dem die Stadt Tübingen potentielle Nutzer als Käufer der einzelnen Parzellen im Entwicklungsgebiet anspricht. Störungsfreiheit, lautet die Maxime der Tübinger Stadtplaner, sei nur in den von Mitscherlich beklagten, funktional entmischten Gebieten, in Schlafsilos und aseptisch gestalteten Wohnsiedlungen zu erwarten.

In den Erdgeschossen der neuen und alten Gebäude am Lorettoplatz und im Französischen Viertel finden sich dagegen nicht nur kleine Läden, Kneipen und Restaurants, Architekturbüros und soziokulturelle Projekte, sondern auch produzierendes Gewerbe – Schreinerei, Fahrradladen, Kfz-Werkstatt, Möbeldesign. „Wer in die Südstadt investiert, muß davon ausgehen, daß Mischung nicht reibungslos ist, sondern auch zu Konflikten zwischen Bewohnern und Unternehmen führen kann“, heißt es im Prospekt der Kommune, „Konflikte, die ganz selbstverständlich zur Kultur eines lebendigen und vielfältigen Stadtteils dazugehören.“

Erfüllt sich damit auch im Neubaugebiet der Tübinger Südstadt tatsächlich die „Sehnsucht nach der Stadt“, wie sie Feldtkeller während seiner Tätigkeit in der Altstadt kennengelernt hat? Es sind die Bewohner Tübingens selbst, die – nach und nach – diese Frage beantworten. Vom Lorettoplatz oder dem Französischen Viertel ist in Tübingen mittlerweile genauso oft die Rede wie vom Marktplatz oder dem Nonnenmarkt. Also den bislang bevorzugten Treffpunkten in Tübingen.

Für Andreas Feldtkeller ist das eine Genugtuung. Der 66jährige ist auf dem besten Wege, es einer ganzen Generation von Planern gezeigt zu haben. Mittlerweile reist der Ruheständler durch die halbe Republik, um für seine Idee einer „Stadt mit Eigenschaften“ zu werben. Was Feldtkeller dabei verschweigt, ist sein eigener Anteil am Erfolg der Tübinger Südstadt. Der „Quantensprung im Städtebau nach 1945“, wie Feldtkellers Nachfolger Pätz das Tübinger Wunder nennt, konnte nämlich nur zustandekommen, indem einer die Zügel in die Hand genommen hat und trotz aller Kritik und Zweifel an seiner Idee festgehalten hat. Auch wenn Feldtkeller, wie es im Tübinger Sanierungsamt heißt, manchmal frühmorgens wie ein Landgraf seine Gemarkung abgemessen hat. Nicht auf dem Pferde selbstverständlich, sondern auf dem Fahrrad.

Joachim E. Röttgers, 44 Jahre, arbeitet als Fotograf bei der Stuttgarter Agentur Graffiti. Seine Schwerpunkte sind Portrait- und Industriefotografie.

Uwe Rada, 34 Jahre, Autor des Buches „Hauptstadt der Verdrängung“, arbeitet seit 1992 in der taz-Berlin-Redaktion. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Stadtentwicklung.