Stalinistische Phantomschmerzen

Tumulte bei einer Veranstaltung zum „Schwarzbuch des Kommunismus“. Dürre Einwände der Gegner  ■ Von Mariam Lau

Seltsam verhalten ist die Diskussion über das „Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror“ bislang in der Bundesrepublik Deutschland verlaufen. Nur in Ausnahmefällen ließen die Rezensenten wirklich greifbar werden, was in dem inzwischen aus dem Französischen übersetzten Buch beschrieben ist.

Anders als in Frankreich, wo inzwischen mehr als 150.000 Exemplare verkauft wurden und das Schwarzbuch Thema einer hitzigen Parlamentsdebatte und unzähliger Talkshows war, wirkt die Diskussion hier wie in Folie eingeschweißt, ein steriles Abgrenzungsritual mit dürrer Totenarithmetik, das einen erschauern läßt. In dieser Stimmung hatte der Münchener Piper Verlag, bei dem die deutsche Ausgabe erschien, für Dienstag abend zu einer Diskussionsveranstaltung in die Berliner Urania eingeladen, die den Auftakt bildet zu einer Präsentationstour durch eine Reihe weiterer deutscher Städte.

Alle waren gekommen: Ältere Herrschaften, von denen einige wahrscheinlich einschlägige Erfahrungen mitbrachten, Historiker- Kollegen der Podiumsteilnehmer, Studenten, junge Menschen in HipHop-inspirierter Freizeitkleidung. Im Handumdrehen eskalierte die Situation. Als Stéphane Courtois, der Herausgeber des Schwarzbuchs, auch nur vorgestellt werden sollte, erhob sich aus der Saalmitte ein ohrenbetäubender Lärm, Buhrufe, Trillerpfeifen- Pfiffe und Getrampel.

Transparente wurden entrollt: „Es lebe der Kommunismus“, „Wer zählt die Opfer des Kapitalismus“. Hinter solchen Losungen möchte man knittergesichtige Arbeiterdarsteller aus der PDS vermuten – aber es waren die jungen Menschen, die Jeunesse dorée der postkommunistischen Nostalgie, die sich hier eingefunden hatten und die auf keinen Fall etwas über regierungsamtlich zu Tode gehungerte Kulaken hören wollten. Eine Art Phantomschmerz muß sie umtreiben – was fehlt ihnen, das Stalin ihnen geben könnte – oder meinetwegen Lenin?

Statt allerdings einen von ihnen aufs Podium zu bitten, was der Sache sicherlich sehr schnell die Dramatik genommen hätte, versuchten sich die Diskussionsteilnehmer zunächst durch zähes Weiterreden zu behaupten. Als auch das nicht mehr geduldet wurde, traten ebenfalls jugendliche, zurückhaltend lächelnde Polizisten auf den Plan und trugen gelassen einzelne Aktivisten aus dem Saal. Trotzdem brodelte es. „Ihr pfeift wie die SA“ rief jemand; „Spring vom Eiffelturm“ forderte ein anderer, als Stéphane Courtois seine ersten Sätze gesagt hatte.

Trotz der Tumulte kam innerhalb kürzester Zeit dann doch die ganze Brisanz des Buches zur Sprache. Der Historiker Wolfgang Wippermann, in dem die jungen Menschen zumindest einen Satelliten auf dem Podium hatten, formulierte schmallippig ein paar dürre Einwände gegen das Buch. Wie zu erwarten war, bezogen sie sich vor allem auf den Topos der Vergleichbarkeit nationalsozialistischen und kommunistischen Terrors.

Dabei schlug er ein paar wirklich gespenstische Töne an: Nie hätten sich die Autoren gefragt, warum jemand in der Sowjetunion deportiert worden sei – vielleicht waren ja wirklich Kollaborateure darunter?! Und schließlich die klassische Drohgebärde, das Winken mit der gräßlichen Fratze des Feindes aus dem Historikerstreit, dem man nicht in die Hände spielen darf: Courtois gefährde mit seinem Buch den westeuropäischen Konsens, nachdem der Holocaust ein singuläres Verbrechen war. Er forderte ihn auf, sich von seiner Behauptung, die Juden instrumentalisierten den Holocaust, „hier und heute abend zu distanzieren“. Ein seltsames Schattenboxen, wo doch Jürgen Habermas längst haushoch über Ernst Nolte triumphiert hat.

Auch Jürgen Kocka, wie Wippermann Historiker an der Freien Universität, fand die Zahlen des Schwarzbuchs nicht vertrauenerweckend, kritisierte aber vor allem seine Undifferenziertheit in bezug auf den Totalitarismusbegriff und die „Quellen des Todes“ – ein eigenwilliger Ausdruck. Sein zentraler Einwand aber war die Ineinssetzung von Kommunismus und Verbrechen: „Der Kommunismus war immer antidemokratisch und repressiv, aber er war nicht immer massenmörderisch.“ Die DDR und Kuba wolle er aus dem großen Beschuldigungszusammenhang herausgelöst sehen.

Wer sich fragt, warum das „Schwarzbuch des Kommunismus“ in Deutschland bislang so vakuumverpackt blieb, konnte hier erste Antworten finden. Nicht zufällig tauchte wieder und wieder die DDR auf. Während in Frankreich eine ehemals hegemoniale maoistische Linke mit dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ ihre Vergangenheitsbewältigung betreibt, trifft es in Deutschland auf (westdeutsche) Linke, für die die DDR schlimmstenfalls das kleinere Übel war. Schließlich fanden dort ja tatsächlich keine Massenerschießungen statt. Der Kapitalismus dagegen, in dem man selbst lebte, blieb für immer mit dem Nationalsozialismus kontaminiert. Die DDR, der Osten überhaupt, war demgegenüber das rettende Ufer, die große Alternative – auch wenn man freilich nicht dort hätte leben wollen.

Nie, nie, nie war von den Toten an der Mauer die Rede. Die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność blieb verdächtig, mit Katholiken ging man keinen Pakt ein; Solschenizyn war ein irrationaler, vergreister Renegat, wahrscheinlich vom Westen bezahlt, und die DDR-Opposition, das waren Protestanten und Verhetzte. Sie würden noch unsere Ostpolitik kaputtmachen.

Was damals Recht war – so scheinen Kocka und Wippermann zu denken –, mag heute vielleicht Unrecht sein, aber haben wir nicht dringendere Sorgen? Geschichtsrevisionismus! Globalisierung! Neonazis!

Es knirscht in diesem Gebälk – um nicht von „Leichen im Keller“ zu sprechen. Joachim Gauck und Heinrich August Winkler, die mit Courtois das Schwarzbuch verteidigten, hatten leichtes Spiel. Er habe größte Achtung vor Kommunisten, die gegen Pinochet gekämpft hätten, sagte Gauck, aber als Herrschaftsform habe sich der Kommunismus delegitimiert – auch wo es nicht zu Massenerschießungen, sondern „nur“ zur Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten gekommen sei. Er hänge auch nicht an der Totalitarismustheorie, wenn jemand eine bessere zu bieten hätte.

Courtois fügte hinzu, man habe sich lange genug philosophisch mit dem Kommunismus auseinandergesetzt, nur seltsamerweise wolle nun niemand die Zahlen hören. Als er das sagte, schallte es von hinten wieder: „Und wer zählt die Opfer des Kapitalismus?“ Das sollte wirklich mal jemand machen. Es sind bestimmt weniger als im Schwarzbuch.