Seiten aus Atlantik

Die Kicker Brasiliens, erfolgreichste Fußballnation aller Zeiten, erwerben ihr Können am Strand. Dort lernen sie in fußballerischer Hinsicht „alles im Überfluß“ (Günter Netzer). Toreschießen scheint ihnen weniger wichtig als filigranes Dribbling. Und der Doppelpaß. Er wurde garantiert zwischen Rio und Recife am Atlantik erfunden und zu einer Kunstform entwickelt. Eine Reportage aus dem Land, von dem viele wünschen, daß es das WM-Turnier in Frankreich gewinnt  ■ Von Werner Paczian (Text) und Christophe Pillitz (Fotos)

Paulos Flanke kommt direkt vom Atlantik. Er hat den Ball elegant angeschnitten, und wie an einer Banane gezogen kurvt die Kugel vor das Tor. Bis vor einer Zehntelsekunde habe ich mich pudelwohl gefühlt. Ich bin einer von sechzehn Fußballern auf einem goldgelben Sandplatz, der sich unter den nackten Füßen wie Samt anfühlt. Neben mir der Ozean, welcher mit von Schaum gekrönten Wellen ruhig ausläuft. Eine mittelschwere Brise macht die Hitze erträglich, und das Licht der untergehenden Sonne verzaubert das Strandleben in ein Meer aus warmen, leuchtendbunten Farben. Aber Paulos verdammte Flanke fliegt ausgerechnet in meine Richtung.

Ich bin mitten in einer Strandpelada. Kurz übersetzt: die täglich wiederkehrende Opfergabe an die Fußballgötter der Meere mittels einer spontanen Zusammenkunft barfüßiger Männer, selten Frauen, an irgendeinem brasilianischen Strand. Wobei mindestens einer der Peladeiros einen ballähnlichen Gegenstand oder gar einen Fußball beisteuert, dem zweibeinig gehuldigt wird, indem Mann ihn streichelt, liebkost, dribbelt und manchmal zwischen zwei Pfosten plaziert, die wahlweise aus Kokosnüssen, Holzlatten, abgebrochenen Besenstielen oder künstlich aufgetürmten Sandhäufchen gebildet werden.

Noch etwas gehört zu einer Pelada am Meer. Sie wird parallel zum Ozean zelebriert, und in der dem Wasser abgewandten Richtung ist das Feld schier unbegrenzt. Gegenüberliegend gilt: Seitenaus Atlantik. Brasilianer scheinen immer und überall Fußball zu spielen. Weil dem Land 8.000 Kilometer Küste gehören, verfügt es potentiell über ebenso viele Kilometer Seitenaus Atlantik. Ständig fliegt irgendwo gerade ein Ball durch die Meeresluft. In Porto Alegre, Rio, Salvador, Fortaleza und in ungezählten kleinen Orten zwischen den Metropolen. Natürlich auch hier in Recife, einer Stadt im Nordosten von Brasilien.

Bis zur Landung von Mauritz von Nassau und anderer holländischer Seefahrer war Recife ein winziges Fischerdorf. Heute ist es eine Millionenstadt mit großem Hafen. Und mit fünfzehn Kilometern Strand. Für Recife heißt das: Hinter allen Dünen ist Pelada.

Das Wort bedeute „barfuß“, schwört Pedro, mein Mitspieler. „Alles Quatsch“, meint Roberto aus dem anderen Team. „Pelada heißt spontan Fußball spielen.“ Richtig ist, daß sie unorganisiert ohne Schuhe abläuft, weil längst nicht jeder Brasilianer sich welche leisten kann und die eigenen Barfüße nichts kosten. Die wahre Bedeutung des Wortes Pelada ist ohnehin nebensächlich. Wichtig ist allein, daß du bei einer mittanzt. Zwei, drei Handzeichen, ein paar nickende Köpfe, schon bin ich mitten in meiner ersten Pelada an irgendeinem Strandabschnitt von Recife.

Ungefähr eine Zehntelsekunde ist es her, da hat Paulo bananengeflankt. Jetzt fliegt der Ball immer offensichtlicher genau auf den einzigen Hellhäutigen unter uns sechzehn Männern zu. Noch bleibt mir reichlich Zeit. Seine Flanke segelt eine volle Sekunde stark gedrallt durch die Luft, zehn Zehntelsekunden. Zehn qualvolle Abschnitte in meinem kurzen Leben als weißer Peladeiro. In Abschnitt zwei fällt mir ein, daß sie mich zum Fußballgott krönen werden, wenn ich die Sache brasilianisch löse. Paulo wäre dann ein Heiliger, ein „São Paulo“ sozusagen.

Fünfzehn Augenpaare starren auf mich, den Deutschen, und erwarten, daß ich den Ball reinschieße. Das ist nicht das Problem: Anstoppen, abziehen, Tor! Aber sie verlangen eine landesübliche Lösung für das Anspiel. Entweder per Fallrückzieher oder den Ball mit der Brust annehmen, so daß er auf dem nackten Oberkörper klebt. Dann das Leder auf einen Fuß tropfen lassen. Dort sollte der Ball noch mindestens zweimal auf- und abtanzen. Danach wahlweise per Außenriß fein geschliffen in die Ecke schlenzen oder volley unhaltbar reinknallen.

Brasilianische Peladeiros kriegen so etwas regelmäßig hin, zumindest den Versuch. Ihre meist erstaunlich dünnen Beine, die in oft überraschend kleine Füße übergehen, entfalten noch erstaunlichere Qualitäten beim Umgang mit einem Fußball. Sie streicheln die Kugel mit der Fußsohle, ziehen sie über den Strand, schaufeln sie an Gegenspielern vorbei und küssen sie mit ihren nackten Zehen bei jeder Berührung.

Aber sie sind eigensinnig. Der geradlinige Weg zum Tor ist nicht ihr Ding, weil sie nichts mehr hassen, als den Ball einfach stumpf zwischen den Pfosten zu plazieren. Einmal hat mich ein Gegenspieler nach allen Regeln der Peladakunst ausgetrickst. Er ist vorbei, aber dann kurvt er noch einmal Richtung Atlantik, dreht sich und steht schon wieder vor mir, den Ball immer noch am Fuß. Ich verstehe erst, als er mir das Leder ein zweites Mal durch die Beine schlenzt. Pelada ist Show, Zirkus, Spaß, Spannung und Kunst.

In Abschnitt drei meiner Pelada mit der Bananenflanke steigt in mir Bewunderung auf für diesen Teufelskerl Paulo. Er hat das Leder tatsächlich direkt vom Atlantik gespielt, nachdem er dort ein paar Meter über den Flügel gestürmt ist. Dabei ist es besonders schwierig, an der Wasserkante zu kicken, weil die Flut immer wieder Welle für Welle ins Spiel einfließt.

Im Prinzip gilt die Regel: Der Atlantik ist das Seitenaus. Außer wenn die Regel nicht gilt. Der Ball landet vor deinen Füßen, und plötzlich schwappt von der Seite das Meer herüber. Da, wo das über den Sand rollende runde Etwas eben noch allein der Erdanziehung gehorcht hat, wird es plötzlich auf Wogen getragen, die es hin- und herschaukeln. Versuche niemals, einen Fußball, der bereits auf den Schaumkronen schwimmt, flach zu spielen.

Du schießt dagegen, aber er rollt nicht nach vorn. Du bist selber in der Vorwärtsbewegung und bleibst mit dem Fuß am Leder hängen. Der Rest deines Körpers gerät langsam in die Horizontale, und der geplante trockene Schuß wird zu einer nassen Bauchlandung. Peladaveteranen kicken in solchen Momenten unter den Ball, um ihn aus dem Meer zurück auf den Strand zu befördern.

Was einen europäischen noch von einem brasilianischen Strandfußballer unterscheidet? Der Weiße legt seine Klamotten neben den Pfosten und vergißt die Beweglichkeit des Atlantiks. Den Rest besorgt die Flut, die plötzlich eine Woge schickt, deren Wasser ziemlich weit auf den Strand kriecht. Bis ins Spielfeld hinein und über deine Shorts, die du anschließend heimlich auswringen mußt, damit deine Mitspieler nicht lachen. Das mit der nassen Hose am Pfosten passiert dir beim ersten Mal, weil du das Meer ignorierst. Beim zweiten Mal, weil du in einer Pelada bist und alles andere vergißt.

Nach dem Spiel gehen die Peladeiros über das Seitenaus in den Atlantik, rein in eine riesige Badewanne. Gleichzeitig ist das Meer der Peladaplatzwart, nach dem du eine Stadionuhr stellen könntest. Sobald bei Ebbe das Wasser zurückfließt, tun sich unzählige Fußballplätze auf, die meisten glatt wie ein Kinderpo. Wenn zusätzlich die Sonne die Feuchtigkeit aus dem Sand saugt, ist das Feld bestellt.

Eine Pelada am Meer ist immer etwas abschüssig, weil sich der Fußballplatz leicht zum Ozean neigt. Noch etwas lernst du ganz schnell: Entweder du spielst mit oder gegen den Wind, es sei denn, er bläst von rechts oder links oder diagonal oder wechselt ständig seine Richtung. Und immer riecht es bei einer Strandpelada nach Muscheln und Seetang.

Paulos Flanke ist seit vier Zehntelsekunden unterwegs. Warum kommt jetzt kein Motorrad vorbei, wie sonst dauernd? Oder ein Kokosnußhändler, der in aller Ruhe seinen einachsigen Wagen vor dem Tor herschiebt? Ich hätte dann den Ball gefangen, kurz „disculpa“ – „Entschuldigung“ – gesagt, und die Sache mit der Bananenflanke wäre gegessen gewesen.

Es passiert hier dauernd, daß jemand durchs Spielfeld latscht, fährt oder keuchend strampelt, wenn er sein kleines Fischerboot auf abgerundeten Holzpfählen zum Atlantik rollt. Du hast alles richtig gemacht, ein paar Gegenspieler ausgetrickst und überlaufen. Du rennst auf das leere Tor zu, und dann das: Die Pfosten sind weg, einfach verschwunden. Keine ausgelutschten Kokosnüsse, keine Holzstangen, keine Sandhaufen weit und breit, zwischen denen du die Kugel lässig oder triumphierend reinschieben könntest.

Statt dessen rennst du mit dem Ball direkt auf einen Wagen zu von der Größe eines Sofas. „Gelado“ – „Eis“ – steht drauf, und „Cocos“. Wenn du nicht sofort die Hacken in den Sand bohrst, wird dir die Karre die Breitseite geben. Sekunden später ist der Koloß nach links gerückt, Richtung Atlantik, und vor dir stehen wieder drei Gegenspieler, hinten denen du die Pfosten siehst. Wahlweise fährt manchmal ein Moped übers Spielfeld, oder Badegäste laufen mitten durch den Strafraum. Aber der Platz, auf dem gerade gebolzt wird, ist ohnehin ständig in Bewegung. Je nach Ebbe und Flut dehnt er sich auf der einen Seite aus oder schrumpft. Auf der anderen ist er ausgefranst, weil er in Dünen, sich sonnende Menschen oder in die Handkarren von fliegenden Händlern übergeht.

Der Sand ist heute gut, größtenteils fest. Nur vorne in meinem Team ist davon zuviel im Getriebe. Wir beißen uns regelmäßig in der gegnerischen Abwehr fest. Irgendwann verhake ich mich zum ersten Mal im Barfuß eines anderen Peladeiro. Haut auf Haut, Knöchel an Knöchel. Manche auf dem Feld könnten meine Söhne sein, aber ich renne tapfer, schlage unbrasilianisch, eher bertimäßig, Bälle hinten raus.

Ich habe mal beim VfL Ummeln in Bielefeld in der fünfthöchsten deutschen Fußballklasse gekickt. Das ist fast zwanzig Jahre her. Deswegen wohl ziehen die Brasilianer im Zweikampf mit mir ihre blanken Füße ein wenig zurück. Nur bei der Flanke sind sie gnadenlos.

Ich habe Paulo nach dem Match direkt ins Gesicht gefragt: „Dieser Bananenball, war der gezielt auf mich gespielt?“ – „Sin“, sagt der Kerl, „natürlich“. Dabei lacht er, daß die weißen Zähne in seinem dunkelbraunen Gesicht blecken wie Schaumkronen im Atlantik bei Sonnenlicht. Es war von Paulo ein Gastgeschenk, weil die Menschen hier freundlich sind, natürlich und ein bißchen schicksalsergeben.

„Wenn sie fünf Dollar in der Tasche haben, gehen sie an den Strand, kaufen irgendwas und spielen Fußball. Wenn sie kein Geld haben, kaufen sie nichts, aber Fußball spielen sie trotzdem“, erzählt die 18jährige Hotelangestellte Andrea, die durch das Fenster an ihrem Arbeitsplatz direkt auf die Peladaplätze blickt. „In Recife triffst du fast nur einfache Leute am Strand, aber sie sind herzlicher als die Menschen in Rio, wo mehr hochnäsige Snobs rumlaufen.“

Die Sache mit Paulos langgezogenem Bananenzuspiel wird langsam heikel. Seit sechs Zehntelsekunden braust der Ball auf mich zu, und hinter ihm fliegen ungezählte Ausrufezeichen. Reinzaubern! Brasilianisch! Spektakulär! Fragst du einen Peladeiro, was bei einer Pelada am wichtigsten ist, schwört er bei den Fußballgebeinen seiner Großmutter: Tore schießen! Um es beim nächsten Dribbling eindrucksvoll zu widerlegen.

Nimm einem brasilianischen Peladeiro die Gegenspieler weg, und er mutiert zum Nichts. Niemand, der umkurvt, umtänzelt, umslalomt werden will. Nimmst du ihm die Torpfosten weg, macht er das, was er ohnehin tut. Dribbeln, sprinten, direkt spielen, blitzschnell. Auch wenn es keine schriftliche Überlieferung gibt, bin ich sicher: Vor irgendwelchen Kokosnußpfosten zwischen Rio und Recife wurde der brasilianische Kurzdoppelpaß geboren. Zwei Spieler schieben sich den Ball von Fuß zu Fuß, nicht immer, aber immer öfter, als zum Toreschießen nötig.

Die schuhlosen Strandfußballer in Brasilien unterteilen sich in eine breite Masse Fußvolk, die der gewöhnlichen Pelada frönt, und in ein paar verrückte Exzentriker, die Peladaoutlaws. Die kicken auf knallhartem Beton oder spielen Seifenfußball. „Futebol de Sabao“ findet in einem großen Swimmingpool aus aufgeblasenem Kunststoff statt. Wer reingeht, wird angeschmiert, mit Schaum, der auf dem Boden verteilt ist. Aber Seife hin, Ball her. Die Brasilianer steigen in die Box, glitschen rum, gleiten aus.

Sogar „Futebol de Sabao“ am Strand von Recife ist typisch peladig. Da spielt ein älterer Herr, den bei uns jeder als Seifenopa bezeichnen würde, neben halbwüchsigen Jungs und Mädels. Aber der Ergraute läßt noch im Glitschparcours filigrane brasilianische Fußballtechnik aufblitzen. Andere Peladaoutlaws lassen eine ausgelutschte Kokosnuß auf ihrem Fuß tanzen, und allein das Geräusch jagt dir trotz der 32 Grad im Schatten Außentemperatur kalte Schauer über den Rücken, „pock, pock, pock“. Holz auf Knochen. Spätestens als der Typ die Kokosnuß per Kopf in die Luft befördert, ist klar: Fußball in Brasilien heißt, nichts ist unmöglich. Natürlich kicken Brasilianer auch auf Bohrinseln weit draußen im Ozean.

Beachsoccer, offiziell gespielt, ist mindestens so hart wie eine Flanke von Paulo. Wer mitmacht, tut sich die kräftezehrende Qual an, die ganze Zeit im weichen, lockeren Sand hinter den Dünen zu laufen. Du kriegst keinen festen Boden unter die Füße, weil das Feld von kleinen, sandigen Tälern und Bergen bedeckt ist. Du trittst auf, und bei jedem Schritt gibt das Geläuf ein paar Zentimeter nach. Der Ball landet vor deinen Beinen und müßte gemäß den Regeln der deutschen Rasenfußballkunst nach links springen. Natürlich ditscht er nach rechts oder gar nicht oder nach links.

Manchmal siehst du auf dem Feld ein Knäuel aus Beinen, Rümpfen, Füßen, Armen und Köpfen. Sand wirbelt auf, bis der Knoten plötzlich einen Ball ausspuckt, dem irgend jemand eine geniale Richtung verpaßt. „Jedes brasilianische Fußballspiel ist ein neues Kunststück, und jeder Spielzug ist ein kreativer Pinselstrich in einem bunten Gemälde“, sagt Strandfußballcoach Alexandro. Selbst die großen Proficlubs nutzen die Küste.

Das Juniorteam von Recife FC wird zum Konditionstraining durch den Sand gescheucht, bis die Spieler keuchen. Die Torwarte fliegen nebenan durch die Meeresluft. Dann wird gekickt. „Im Sand kriegen die Spieler noch mehr Gefühl für den Ball, weil sie ihn ganz eng am Fuß führen müssen“, sagt Alexandro. Außer wenn das Leder gerade durch die Luft segelt.

Mit Paulos Bananenflanke, das hört sich im nachhinein ziemlich rational an. Aber spätestens als die letzten drei Zehntelsekunden vor dem Showdown angebrochen sind, habe ich die Sache als eine Angelegenheit betrachtet, die sich oberhalb links vom Unterleib abspielt, da wo das Fußballherz schlägt. Denn eine Pelada ist pure Emotion und wird dein ständiger Begleiter. Wenn du eine beendet hast, merkst du plötzlich, daß du dich nach der nächsten sehnst oder plötzlich in einer anderen blöde im Feld rumstehst.

Praktisch überall am Strand wird gerade eine gespielt oder ist soeben gespielt worden oder wird mit hundertprozentiger Sicherheit gleich gespielt werden. Und wo du hinschaust, tauchen Relikte vergangener Peladas auf. Vergammelte Kokosnüsse oder dünne Holzlatten stecken noch als ehemalige Torpfosten im Sand. Jenseits der Seitenlinie Atlantik liegen kleine Fischerboote vor Anker, deren bläßlich- blaue Holzplanken nach frischer Farbe schreien. Aber die Besitzer haben keine Zeit zum Pinseln, weil sie gerade in einer Fischerpelada stecken.

Die Menschen in Recife spielen morgens, mittags um zwölf, nachmittags und abends bis in die Nacht im spärlichen Licht einiger Laternen, die auf der Strandpromenade stehen. Sie spielen mit allem, was rund ist, und sie dribbeln wie die Weltmeister von 1994, als Brasilien die Fußballkrone holte. Wenn du einen Ball verfummelst, wird dir hier niemals jemand böse sein. Ein gewöhnliches Peladaleben besteht aus dribbeln und dribbeln lassen. Tore erzielen ist nicht so wichtig.

Aber wehe, die Peladeiros schießen eines. Sie verknoten sich in wilden Umarmungen, klatschen auf nackte Rücken oder streicheln durch schwarzgelockte Haare. Wenn sie jubeln wie die Profis, dann hoffen sie auf eine Karriere à la Leto. Der 29jährige Mann war einst Fischerjunge am Pinastrand von Recife. Heute spielt er in einem Club in São Paulo in der ersten Liga und macht gerade Urlaub in seiner alten Heimat.

Da sitzt Leto jetzt mitten unter dem gemeinen Volk in Badelatschen am Strand, und nur ein Goldkettchen und die dicke Armbanduhr verraten etwas über seinen Kontostand. „Meine Geschichte?“ fragt Leto. „Ich bin am Meer aufgewachsen und habe in jeder freien Sekunde am Strand Fußball gespielt. Klar, daß alle Jungs hier davon träumen, einmal Profi zu werden.“ Der Karrierestart von Leto trägt ziemlich gewöhnliche Spielzüge: „Mein erstes Geburtstagsgeschenk, an das ich mich erinnere, war ein Ball.“

Ein solch rundes, weltbewegendes Teil nähert sich mir unaufhaltsam. Inzwischen ist eine Ewigkeit verstrichen, acht Zehntelsekunden etwa, aber der Ball will partout seine Strandumlaufbahn nicht ändern. Er kommt auf mich zu und wird immer bedrohlicher. Also, entweder Fußballgott im Strandsoccerhimmel, sofern ich ihn normal-spektakulär reintue. Oder sie ziehen mir, im Land eines Pelé, die Pelle bei lebendigem Leib ab. Verdammt bin ich dann in die Fußballhölle, wo ich noch qualvoller als Uli Hoeneß schmoren werde, der einmal einen entscheidenden Elfer verschossen hat. Aber das war in Europa.

Wenn du von dort stammst und gewohnt bist, in Schuhen zu kicken, dann gnade deinen Fußsohlen nach ein paar Peladas in Brasilien. Spätestens am Abend des zweiten Tages verwandelt sich der samtene Fußballplatz in gemeines Schmirgelpapier, und der Europäer kriecht auf ausgemergelten Peladafüßen vom Strand. An der Sohle werfen sie Blasen, die Haut läßt sich in markstückgroßen Kreisen abziehen. Obenauf leuchten die Füße signalrot und sind etwas geschwollen. Sie brennen und scheuen den salzigen Atlantik wie der Teufel. Brasilianische Peladafüße sind mindestens aus Leder.

Mein dritter Tag war die Hölle. Auf europäischen Peladafüßen am Strand entlanggeschlichen und überall um mich herum Peladas. Ich habe einen auf cool gemacht, auf unpeladig. Den Blick stur geradeaus, haarscharf an den Bällen vorbei. Und natürlich in den Augenwinkeln jeden Spielzug und im Fußballherzen Entzugserscheinungen. Nach einer Woche wirkt Pelada wie eine Fußzonenreflexmassage. Die Füße reagieren schneller, ihre Reflexe werden besser. Ich habe mir die letzten Tage alle 24 Stunden eine Dosis von zwei bis drei reingezogen – problemlos. Zugegeben, beide Füße waren bandagiert.

Neun Zehntelsekunden seit Paulos Flanke, und sein Anspiel ist jetzt ganz nah vor mir. Rechts sehe ich einen jugendlichen Fußballzwerg aus meinem Team, links einen Ozeanriesen am Horizont. Was allein mich noch retten könnte, wäre eine plötzlich einsetzende Springflut. Eine mächtige Welle, die den Ball erfaßt und ihn zwischen den beiden Pfosten hindurchspült. Meine Mitspieler würden es unter „Torschütze Flut“ registrieren und abhaken. Aber wir haben gerade Ebbe.

Es gibt für Peladeiros, naturgemäß, gute Gezeiten und schlechte Gezeiten. Bei Niedrigwasser bringt es der Strand von Recife auf eine Tiefe von stellenweise mehr als hundert Metern. Bei Flut schrumpft er auf ein Fußballfeld von den Ausmaßen einer Autobahn: lang, dafür nicht besonders breit. An den Wochenenden werden die Peladaflächen unabhängig von den Gezeiten begrenzt.

Der Strand ist dann übersät mit Badegästen, Campingstühlen, Sonnenschirmen, Picknickkörben, Kofferradios und Verkaufsständen. Dann ist die Hochzeit der Farofeiros, Leute, die sich irgendwo in der Stadt gemeinsam einen Bus oder Lkw mieten und zum Strand fahren. Natürlich mit Kind und Kegel und Fußball. Farofeiro ist nicht direkt ein Schimpfwort, aber es ist auch kein Ruhmesblatt, so genannt zu werden. Abgeleitet ist die Bezeichnung von Farofa, einer karottenförmigen Wurzelknolle, Hauptmahlzeit der armen Leute. Und weil es besonders im Nordosten von Brasilien viele Mittellose gibt, treffen sich Scharen von Farofeiros am Strand. Dann müssen die Peladeiros pausenlos Hunde, Strandspaziergänger, zum Wasser Strebende, fliegende Händler oder Mütter mit Kinderwagen umkurven.

Ich habe die Angelegenheit mit seinem Anspiel ungewollt ziemlich simpel gelöst. Der Ball fliegt auf mich zu, ich springe hoch, aber: total Banane. Ich habe mich verschätzt. Das runde Schreckgespenst gleitet über meinen Kopf, und ich schwöre, es hat nicht mal meine Haarspitzen berührt. Hinter mir stand einer von den Pedros oder Robertos. Jedenfalls einer von den brasilianischen Ballmagiern hat das Leder direkt verarbeitet. Er hat es volley genommen, dabei leicht schräg in der Luft gelegen und den Ball Richtung Atlantik geknallt, genau dahin zurück, wo noch Flankengott Paulo stand.

Richtig, der Schuß ging ziemlich weit am Tor vorbei, deutscher geht es kaum. Aber für meine Fußballfreunde war es ein genialer brasilianischer Doppelpaß. Toreschießen ist bei einer Pelada schließlich zweitrangig.

Christopher Pillitz, 40, wuchs in Argentinien auf und lebt in London. Fünf Jahre arbeitete er u.a. an einer Fotostudie über brasilianischen Körperkult.

Die Reportage mit den Fotos von der Agentur Network/Focus erscheint zugleich in dem Magazin Mare – Die Zeitschrift der Meere (Am Sandtorkai 1, 20457 Hamburg). Dort sind regelmäßig maritim inspirierte Texte und Fotos zu lesen.

Werner Paczian, 40, freier Journalist, begann als Lokalsportreporter. Mindestens einmal wöchentlich spielt er noch Fußball.