Das zweite Leben der Anne Frank

Wem gehört das berühmte Tagebuch der jungen Jüdin, die kurz vor Kriegsende in ihrem Amsterdamer Versteck von Nazis gefunden, deportiert und umgebracht wurde? Ist sie Zeugin für eine jüdische Identität? Oder steht ihre Botschaft für universelle Werte? Ein alter Streit, neu entfacht durch die aktuelle Bühnenversion am New Yorker Broadway. Ein Essay  ■ von Mariam Lau

Die Gegend um das Anne Frank Haus auf der Prinzengracht in Amsterdam hat etwas von den besseren Teilen Kreuzbergs. Du kannst dich gegenüber der Nummer 263 in ein Café am Kanal setzen und beobachten, wie sich das ehemalige Warenhaus einreiht in eine Harmlosigkeitskulisse aus Boutiquen, Buchhandlungen und Galerien. Zu Anne Franks Lebzeiten war das Jordaan-Viertel noch ein proletarischer Industriebezirk.

Ein Baugerüst umrankt das Haus. Touristen wird in einer Broschüre erklärt, daß die winzigen Räume des Hinterhauses dem Ansturm von über einer halben Million Besucher jährlich nicht mehr gewachsen waren; alles muß renoviert werden. Die Besucher kommen von überall. Manche von ihnen behaupten, Anne Frank kurz vor ihrem Tod kennengelernt, andere wollen sie nach dem Krieg in Argentinien getroffen haben, manche glauben, Anne Frank zu sein.

In diesem Jahr erschien die dritte Auflage eines Buches der schwedischen Schriftstellerin Barbro Karlén, die behauptet, sie sei in einem früheren Leben Anne Frank gewesen. Sie erklärt sich einige enttäuschende Erfahrungen während ihrer Laufbahn als Dressurreiterin mit diesem ihrem Stigma.

Die Versuchung, die quirlige „Anne- Frank-Industrie“ gegen das Trostlose ihres Schicksals auszuspielen, ist groß. Präsent wie die Mona Lisa, lächelt Anne von Jugendbegegnungsheimen und Gedenkstätten in aller Welt herab, eine jüdische Schutzheilige der Erinnerung, die vor allem mit einer versöhnlichen Botschaft zitiert wird: „Trotzdem glaube ich an das Gute im Menschen.“ Ein weiblicher Jesus. Genau wie sie es sich gewünscht hat – „ich möchte auch nach meinem Tod noch weiterleben“ –, ist Anne Frank eine der berühmtesten Autorinnen der Welt.

Von ihrem Tagebuch, das Millionen Menschen in Dutzenden von Sprachen gelesen haben, gibt es eine Filmversion, mehrere Bühnenfassungen, ein Musical und sogar eine japanische Comicausgabe. Eigentlich, so schrieb Ian Buruma in der New York Review of Books, fehlt nur noch „Anne Frank on Ice“. Jetzt wird am Broadway eine modernisierte, cool-ironisierte Version aufgeführt, die auf der berühmtesten, im Geist der fünfziger Jahre vom christlichen Autorenteam Frances Goodrich und Albert Hackett geschriebenen Fassung beruht. Die Schauspieler empfangen nach den Vorstellungen tränenüberströmte Zuschauer, die ihr Mitleid mit den Franks bekunden und sich darüber austauschen wollen, was sie gerade durchgemacht haben.

Man kann das degoutant finden. Intellektuelle, die sich in letzter Zeit zur anschwellenden Anne-Frank-Industrie geäußert haben, reagieren angewidert. Große Volkstrauerbewegungen bekommen von ihnen ja selten gute Noten. Interessanter aber ist die Kontroverse, die anläßlich der Wiederaufführung des Stückes in den USA erneut aufgeflammt ist. Der Streit paßt in das Zeitalter der Identitätspolitik und dreht sich im Kern um die Frage, wem Anne Frank „gehört“: Hat sie eine Botschaft für Hinz und Kunz – wie die Besucher ihres ehemaligen Verstecks in Amsterdam nahelegen –, oder hat sie eine spezifisch jüdische Geschichte zu erzählen, die von Anfang an zu einer aufmunternden Bergpredigt verfälscht worden ist? Gibt der Satz „Und trotzdem glaube ich an das Gute im Menschen“ gar nicht die Essenz des Tagebuchs wieder, sondern nur das, was die nach schnellem Trost und Entlastung dürstende Nachwelt, allen voran die Deutschen, darin sehen wollte?

Die Kontroverse ist so alt wie die Publikation des Buches selbst. Otto Frank, Annes Vater, wollte von Anfang an eine universalistische Botschaft aus den Aufzeichnungen seiner Tochter herauslesen. Er war der einzige Überlebende der achtköpfigen Hinterhausgemeinschaft, bestehend aus Anne, ihrer Schwester Margot, ihrer Mutter Edith, einem Herrn Pfeffer und der Familie van Pels, in deren Sohn Peter sie sich verliebte. Otto Frank stammte aus Frankfurt, aus einem liberalen, jüdisch- deutschen Elternhaus, in dem Brahms gehört und abends gemeinsam Goethe gelesen wurde.

Während des Ersten Weltkriegs war er Leutnant der deutschen Armee. Der SS- Mann, der die Verhaftung der Hinterhausgemeinschaft vorantrieb, fand Franks Ehrenabzeichen beim Öffnen einer Kiste und nahm, wie Frank sich später erinnerte, „versehentlich innerlich Haltung an“. Otto Frank war weder religiös, noch schämte er sich seines Jüdischseins. Wären die Nazis nicht gewesen, hätte er es womöglich einfach vergessen. Ginge es nach ihm – er starb 1980 –, so würde das Tagebuch seiner Tochter nicht nur als Fanal gegen den Antisemitismus, sondern, so erklärte er einem israelischen Journalisten, „gegen Diskrimierung überhaupt, gegen mangelndes menschliches Verstehen und gegen Vorurteile“ gelesen.

Die Publikation des Tagebuchs Anfang der fünfziger Jahre in den USA, die dessen Welterfolg einleitete, wurde von einem Mann initiiert, der da ganz anderer Auffassung war. Der amerikanische Schriftsteller Meyer Levin stammte von verarmten jüdischen Einwanderern ab, lettischen Schtetljuden, die es nach Chicago verschlagen hatte. Über der Eingangstür ihrer kleinen Schneiderei hatte „Joe the Tailor“ gestanden, und Levin hatte sich in der Schule geschämt, wo jüdisch, arm und rückständig Synonyme waren.

Levin wurde reisender Journalist, schon um dem Zuhause und einer auf Unglück angelegten Ehe zu entkommen. Er berichtete vom Spanischen Bürgerkrieg und ging schließlich als Berichterstatter zur Armee. Bei der Befreiung der KZs entdeckte er sein Jüdischsein. Von einem Ort zum andern fahrend, engagierte er sich so sehr, daß die Überlebenden die Namen ihrer Angehörigen auf seinen Jeep schrieben, hoffend, er werde sie finden. Schon bald war der Wagen so vollgekritzelt mit Namen, daß kein einzelner mehr zu lesen war.

Levin muß eine Art Mission gespürt haben. „Mir wurde klar“, berichtete er später, „ich würde niemals in der Lage sein, die Geschichte der Juden von Europa zu erzählen. Dieses tragische Epos kann überhaupt nicht von jemandem geschrieben werden, dem die Erfahrung fremd ist. Die Überlebenden haben einen Blick, den wir nie erreichen können. Sie haben so lange so nah mit dem Tod gelebt, daß sie auf einer moralischen Ebene quasi ,Töne hören', die außerhalb des normalen akustischen Spektrums liegen. Gelegentlich konnte ich eine Geschichte erzählen, die einen tangentialen Blick in die Herzen der Überlebenden erlaubte. Aber eines Tages würde sich aus ihren eigenen Reihen jemand erheben müssen, um zu sprechen.“

Dieser Jemand entpuppte sich als ein Mädchen, deren Tagebuch ihm Jahre später seine zweite Frau in die Hand drückte. Seine Fahrten hatten ihn auch nach Bergen-Belsen geführt, wo Anne Frank im Frühjahr 1945 an Typhus gestorben war. Er behauptete später, aus den Massengräbern, in die er damals geblickt habe, sei Annes Geist zu ihm aufgestiegen. Im Lauf seines Lebens sah er sich mehr und mehr als ihr Doppelgänger. Für ihn war die Botschaft des Tagebuches klar: Der Holocaust war eine bittere Lektion für alle Juden, die ihre Religion vergessen haben – die Shoah als Strafe Gottes.

Zwischen Levin und Otto Frank reproduzierte sich schon nach kurzer, freundschaftlicher Bekanntschaft die Kluft zwischen den deutschen und den osteuropäischen Juden, wie sie schon in der Weimarer Republik bestanden hatte. Die deutschen Juden galten als angepaßte, entwurzelte, versnobte Möchtegernbürger, während die osteuropäischen Juden ihnen als traditionalistisch, rückständig und armselig erschienen. Viele deutsche Juden hatten Angst, die „Kaftanjuden“ aus Vilna, die zu Tausenden ins Berliner Scheunenviertel zogen, könnten ihre hart erkämpfte Assimilation gefährden.

Meyer Levin, der die Verbreitung von Anne Franks Tagebuch zu seiner Lebensaufgabe machte, schrieb eine eigene Bühnenversion. Otto Frank war zwar nicht abgeneigt, legte sie aber einigen erfahrenen Broadway-Autoren vor, die sie allesamt für nicht bühnentauglich hielten. Frank entschloß sich schließlich, die Drehbuchautoren Albert Hackett und Frances Goodrich zu beauftragen. Meyer Levin, tödlich gekränkt, versprach, er werde einen „Warschauer Ghettoaufstand“ gegen den „Vertragsbruch“ lostreten, klagte gegen Otto Frank und schrieb Beschwerdebriefe in glühender Verdächtigungsrhetorik an alle erdenklichen jüdischen Institutionen. Er sah eine „stalinistische Verschwörung“ durch Otto Frank und dessen Broadway-Vertraute und KP-Mitglied Lillian Hellman am Werk, die als Deutsche von jüdischem Selbsthaß getrieben seien.

„Anne Frank“, so schrieb er an das Theodor-Herzl-Institut in New York, „steht in ihrem Tod für das ewige Leben eines Volkes. Andere jüdische Autoren sind ermordet worden in den letzten Jahren, fünfzehn allein gerade erst in Stalins Rußland, nur weil sie taten, was auch wir – Anne Frank und Meyer Levin – tun: über Juden schreiben. Es gibt auch einen dritten Weg, einen Autor zu töten: indem man seine Werke nicht publiziert. Genau dies werde ich vor Gericht bekämpfen. Anne Frank hat das Recht auf eine wahrheitsgemäße Interpretation ihrer Arbeit, und das gilt auch für ihre Aussagen über jüdische Identität, die sie so unsterblich machen.“

Das Tagebuch gibt, man ahnt es schon, beiden Seiten Material an die Hand. An einer Stelle heißt es: „Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, aber es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. Wenn wir all dies Leid ertragen und noch immer Juden übrigbleiben, werden sie einmal von Verdammten zu Vorbildern werden.“ Dann wieder schwärmt sie vom Nikolaus, während Chanukka ziemlich abfällt (“nicht viel Umstände gemacht, ein paar hübsche Sächelchen hin und her“), und schwört, es sei ihr sehnlichster Wunsch, nach dem Krieg Holländerin zu werden.

Als backfischhafter Abenteuerroman läßt sich das Tagebuch ebenso lesen wie als Initiationsgeschichte eines jungen Mädchens, das über seine erste Menstruation, den Haß auf die Mutter oder die Rivalität mit der Schwester und das lästige Erbsenschälen reden will.

Von dieser Lesart ist in der aktuellen Debatte nicht die Rede. Statt dessen erleben wir eine Renaissance des Streits zwischen „Universalisten“ und „Partikularisten“: Zwischen denen, die glauben, die Menschheit müsse aus dem Holocaust lernen, und denen, die solches Lernen für frivol und Annes Tagebuch für eine innerjüdische Angelegenheit halten. Die Schriftstellerin Cynthia Ozick, bekannt durch ihre schneidenden Erzählungen von gestrandeten Überlebenden, wirft Otto Frank vor, er habe das Tagebuch gefälscht, weil er ein „entwurzelter Jude“ sei, dem es an „jüdischem Temperament“, an Bekenntnis zu seinem Glauben fehle.

In der Tat hatte Otto Frank die Stellen des Tagebuchs gestrichen, die noch Lebende oder das Andenken seiner Frau Edith hätten beleidigen können; Stellen, die ihm zu intim schienen, und schließlich etliches, das er für trivial hielt. In der zur Zeit erhältlichen Taschenbuchausgabe sind die meisten seiner Streichungen zurückgenommen – der Unterschied ist bestenfalls ein gradueller. Die Rede von der „jüdischen Wurzellosigkeit“ ist hingegen ein alter Topos des Antisemitismus. Man kennt ihn beispielsweise aus der Assoziation des blutsaugerischen internationalen Finanzkapitals mit den Juden. Wie religiös die Opfer waren, spielte bei ihrer Ermordung bekanntermaßen keine Rolle.

Ozick bekam Hilfe aus der Bundesrepublik. In der Frankfurter Rundschau hieß es: „Auch in Deutschland wurde die Reduktion des Grauens auf die persönliche, familiäre Erfahrungswelt enthusiastisch begrüßt, mit der die ermordete, aber nun wieder verlebendigte Anne Frank ihre Leser zur Identifikation einlud. Broadway und Hollywood sind für die deutsche Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank so etwas wie die Nato für die junge Bundesrepublik“, befördern sie in den Kreis der respektablen westlichen Nationen.

Broadway und die Nato, Bewußtseinsindustrie und Kriegsmaschine – alles eins. Ähnliche Vorwürfe waren auch gegen die TV-Serie „Holocaust“, Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ oder auch das Berliner Holocaust-Mahnmal erhoben worden, als sei die Identifikation mit den Opfern ein weiterer Gewaltakt gegen sie. „Mir ist doch lieber“, so Ian Buruma gegen Cynthia Ozick in der New York Review of Books, „das deutsche Publikum identifiziert sich mit jüdischen Opfern, als daß es Lektionen darüber bekommt, wie man ein guter Jude wird. Diese Identifikation kann zu Selbstmitleid führen, aber wahrscheinlicher ist, daß sie den Menschen zumindest eine Idee davon vermittelt, was den Opfern angetan wurde.“

Zwei Bücher – „Besessen von Anne Frank. Meyer Levin und das Tagebuch“ von Lawrence Graver sowie „Das gestohlene Erbe der Anne Frank“ von Ralph Melnick – halten die Debatte in Schwung. Scharf wird ihr Ton, weil es um „Identitätspolitik“ geht, die in den letzten Jahren mehr und mehr um Opfererfahrungen von Minderheiten kreist.

Chinesen erinnern das Nanking-Massaker, als sei es das Moment ihres kulturellen Erbes, schwarze Amerikaner gedenken der Sklaverei, als sei sie gestern zu Ende gegangen, die Serben phantasieren vom Amselfeld. Je entfernter die Erfahrung, desto sentimentaler die Erinnerung. Abermals Buruma: „Je mehr Leute ich sehe, die ihre Identität in kollektiven Trauerritualen ausdrücken, desto mehr bewundere ich Otto Franks Würde und seinen vielleicht naiven, aber trotzdem bewundernswerten Wunsch, die eigene Trauer einem universelleren Ziel unterzuordnen.“