Das Leben der Ziegen

Kreta war einst ein Ziegenparadies. Heute sind die Bauern auf dem Vormarsch. Die Zuneigung der Hirten gilt eher jagenden Touristinnen als den Tieren  ■ Von Hans W. Korfmann

Noch ein paarmal bäumt sich das Leben auf, zuckt durch den Körper des Zickleins. Janis setzt den Stiefel knapp neben die klaffende Stichwunde im Hals, aus der im Rhythmus der letzten Herzschläge das Blut hervorstößt. Er muß das Tier fest auf den Boden drücken, damit es ihm nicht bis ans Hemd spritzt. Das Messer zwischen den Zähnen, blickt er in die Ferne und sieht aus wie die griechischen Freihheitskämpfer auf alten Fotografien: diese stolzen Gestalten auf den windigen Gipfeln, mit Patronengurt und Hirtenstock, ein Bein auf einem Stein angewinkelt wie auf dem gerade besiegten Feind.

Wenn das Leben endgültig verebbt ist, ritzt er das Fell am Oberschenkel ein, fährt mit einem abgestumpftem Stock unter die Tierhaut und stößt vor bis zum Bauchansatz. Dann beugt er sich über den Schlitz und haucht dem toten Körper seinen Atem ein, bläst Luft zwischen Haut und Fleisch, bis sich die beiden voneinander lösen und die Gliedmaßen wieder straffen. Das Tier liegt wie ein aufgeblasener Ballon auf dem Rücken. Zwei Schnitte noch an den Hinterläufen, dann läßt sich das Fell ablösen – so leicht, als ziehe man dem Tier einen Pullover aus.

Vor drei Monaten schlief das Kitz noch unterm Ofen in der Küche. Es war zu schwach, um mit der Herde zu laufen, und der Hirte hat es mit der Flasche aufgepäppelt. Wenn er sich mittags auf einen Felsen setzte und sein Brot aus dem Rucksack holte, kam es und nuckelte an seinem Finger. „Sie tun mir ja leid!“ sagt er. „Aber ich kann sie doch nicht alle laufen lassen!“

Als Janis das erste Mal mit seinem Vater auf die Berge von Katsomantados stieg, hatte er noch keine Schuhe an den Füßen. Und die Steine hier sind scharfkantig, die Sträucher dornig. „Ich erinnere mich noch genau, wie wir in Chania beim Schuster ein paar Stiefel für mich machen ließen. Das war der Tag, an dem ich Hirte wurde!“ Die Füße umwickelten sie mit Stofffetzen. Strümpfe waren zu wertvoll, die trug man sonntags in der Kirche.

Kretas Hirten sind ein stolzes Volk, ein Volk für sich. Besonders die im Westen, die von Katsomantados. Sie waren es, die im Bürgerkrieg an der Seite der Partisanen kämpften. Sie waren es, die Kreta von den Türken befreit haben. Und sie haben der deutschen Wehrmacht erbittert Widerstand geleistet, den Feind in den unwegsamen Schluchten in Hinterhalte gelockt und niedergemetzelt. Sie sind die Helden mit dem aufrechten Gang.

„Die Bauern in den Tälern haben krumme Rücken. Sie sind geizig, bücken sich nach jeder Olive!“ Die freilich sehen die Dinge anders. Für sie sind Hirten Diebe und Faulenzer: „Entweder sie gehen spazieren, oder sie liegen im Schatten und schlafen. Während ihre Herden über unsere Weinberge und Olivenhaine herfallen.“

Der Streit zwischen Bauern und Hirten ist einer der ältesten der Menschheit. Auf Kreta erfreut er sich jungfräulicher Frische: Immer wieder klagen die erregten Besitzer der Olivenberge vor den ländlichen Gerichten gegen die Ziegenhirten. Der Richter kann sich das Grinsen nicht verkneifen, wenn die Männer der Berge mit ihren ironischen Bemerkungen über die dickleibigen Ölbauern den Saal zum Lachen bringen. Doch der Preis für jeden angeknabberten Ast – „ein zartes Zweiglein von der Länge eines durchschnittlichen männlichen Arbeitsgerätes“ – ist genau festgelegt. Und in einer einzigen Nacht kann eine Herde mit zweihundert gefräßigen Ziegen einen frisch gepflanzten Weinberg in Brachland zurückverwandeln.

Deshalb verbrachte Janis früher die Vollmondnächte noch in dem Steinhaus beim Gipfel und ließ die Tiere nicht aus den Augen. Er schlief auf Reisig, ein paar alten Decken und Mänteln, einige noch von den Deutschen aus dem Krieg. Im Winter heizte er die Hütte mit Wurzeln, die stundenlang vor sich hin glommen und den Schläfer räucherten.

„Die Ziegen sind schlau. Schafe dagegen“, sagt Janis und rümpft die Nase, „Schafe kann man einsperren, die rühren sich nicht! Schafe sind etwas für alte Männer. Aber Ziegen, wenn du die zwei Tage allein läßt, haben sie sich über zehn Kilometer verstreut und in zwanzig Gruppen aufgeteilt!“

Auch wenn die Hirten gerne lügen – es stimmt: Die Ziegen in der Schlucht und auf den Bergen von Katsomantados leben wie ein Rudel Gemsen in den Alpen und sind kaum zu zähmen. Deshalb haben sich die Männer im Dorf einst zusammengetan und ihre Tiere in einer großen Herde vereint. Tageweise wechselten sie sich ab, eine Arbeitsteilung, die jedem zugute kam. Im Frühjahr molken die Männer zweihundert bockige Ziegen. Über hundert Liter Milch schäumten damals im Kupferkessel, wenn sie neben dem Pferch Feuer entfachten, die Milch erhitzten und einlabten. Am Abend brachten sie zwei Käseleiber mit ins Dorf. So ging das seit ewigen Zeiten.

Bis vor zwei Jahren. Als es endlich zum großen Streit kam zwischen den Hirten, aus einem nichtigen Anlaß, Janis weiß nicht mehr, warum. „Es ist einfach zu lange gutgegangen!“ Kein Dorf auf Kreta ist von diesen Zwistigkeiten verschont, die meisten Familien befinden sich im Kriegszustand mit ihren Nachbarn, und nicht immer endet ein Streit friedlich wie in Katsomantados und mit der Errichtung von Zäunen: Letztes Jahr ließen zwei Schafhirten im Nachbardorf wegen einer Tränke die Pistolen sprechen. „Der eine sitzt jetzt im Gefängnis, der andere liegt auf dem Friedhof.“

Die Zäune in der Schlucht von Katsomantados ziehen sich nun hinauf bis zum Gipfel und haben die riesige Weide in kleine Parzellen geteilt. Der erste aus der ehemaligen Hirtengemeinde hat sein Land verkauft: an einen Bauern! Wie ein gefährlicher Virus sitzt dieser jetzt mitten im Weideland. Ein Bulldozer hat den grünen Berg feinsäuberlich bis zum Gipfel hinauf in sechsundzwanzig rotbraune Linien unterteilt. Drei Meter schmale Streifen ebene Erde, auf denen einmal Oliven wurzeln sollen – halb Kreta haben sie schon bedeckt, weil die Europäische Union das Öl subventioniert und gut zahlt. Die Hirten fragen sich, wer so viel Öl essen soll.

„Das war gut damals!“ sagt Janis, „als wir noch alle zusammenarbeiteten! Jetzt läuft jeder seinen eigenen Viechern hinterher wie ein Idiot. Wir hatten viel Spaß da oben, immer eine Flasche Schnaps dabei – falls man jemanden traf. Im Sommer, wenn wir die Böcke eintrieben, machte einer schon das Feuer, während die anderen den Tieren die Hoden herausschnitten und sie auf Spieße steckten. Wir grillten das frische Fleisch, tranken den Schnaps und erzählten uns Männerwitze!“

Dort oben war immer etwas los. Eines Tages, erinnert er sich, sah er mittags um zwölf – es hatte vierzig Grad – in den Kreisen seines Fernglases zwei Rucksäcke zwischen den Büschen auftauchen. Er kratzte sich am Schädel und vergewisserte sich seiner Flinte auf dem Rücken. Das mußten Verrückte sein oder Verbrecher. Aber mit der Zeit tauchten immer mehr von ihnen auf, und irgendwann teilte er sein Brot und den Schnaps mit den Touristen. Die meisten waren verrückt. Aber eine von ihnen, eine junge Frau mit blonden Haaren, die konnte mit der Flinte umgehen!

Janis hat sie öfter mitgenommen. Er kennt jeden Hasen hier und jeden Busch, in dem eine Schnepfe sitzt. Er pflückte der schießenden Frau Birnen von den herrenlosen Bäumen, die überall dort oben stehen und die er aus Langeweile einmal veredelt hat. Heute tragen die knorpeligen Stämme saftiges Obst für jeden, der vorbeikommt. „Die war richtig begeistert. Dabei gibt es hier nichts als ein paar Steine! Ich weiß nicht, was die Leute hier oben suchen“, sagt er und hebt fragend die Schultern. Eigentlich weiß er es längst. Aber die Kreter sind Helden, und Helden haben keine romantischen Gefühle. Heute sitzen die Hirten im neuen Imbiß an der frisch asphaltierten Straße, die durch die Schlucht läuft. Es unterscheidet sie nicht viel von den Touristen, die neben ihnen sitzen und an der Cola nuckeln. Nur die Begeisterung für den Anblick der Tiere in den Felswänden, die haben die Hirten nicht.