Nationale Schuld, kollektives Leid

Vor 56 Jahren begannen alliierte Bomber, deutsche Städte in Schutt und Asche zu legen. Alt- und Neonazis waren diese Angriffe stets Beweis dafür, daß Deutschlands Kriegsgegner moralisch nicht besser waren. Die späte Debatte um den Luftkrieg entdeckt die Leidensgeschichte der Deutschen – ohne zu vergessen, daß Nazideutschland den Terror begonnen hat. Ein Essay  ■ von
Horst Meier

Die Opfer der Luftangriffe einer möglichst umfassenden [...] Untersuchung zu unterziehen, war für den pathologischen Anatomen das Gebot der Stunde.“ Mit dieser lapidaren Feststellung beginnt eine Studie, die zum Grausigsten zählt, was über den Krieg gegen die deutschen Städte gedruckt wurde.

„Tod im Luftangriff“ heißt das Buch, das der Hamburger Medizinprofessor Siegfried Gräff schrieb. Seine Autopsieberichte, ursprünglich im Auftrag der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Luftwaffe erstattet, unterlagen der Geheimhaltung und wurden erst 1948 gedruckt. Seit 1943 war der Pathologe mit einem „Untersuchungstrupp der Luftwaffe“ in der Trümmerwüste der am schlimmsten heimgesuchten Stadtteile unterwegs gewesen und hatte sich von KZ-Häftlingen und Gefangenen, die die verschütteten Keller öffnen mußten, über siebzig Leichen in den Sektionssaal bringen lassen.

Man scheut sich, die dreißig angefügten Schwarzweißfotos zu betrachten. Doch es sind weniger diese Bilder, die so grauenerregend wirken; schockierend sind vielmehr die nüchtern-sachlichen Protokolle, die Gräffs Arbeit am Seziertisch dokumentieren. Weil den Pathologen nicht das Sterben einzelner, sondern das kollektive Sterben vieler interessiert, klassifiziert er die Menschen, die durch die Gewalt des Luftangriffs zu totem Material deformiert wurden, nach Fundorten und Zustand.

Da sind die Befunde über die „Kellerleiche“ und die Spezifika der „Bomben- Brand-Schrumpfleiche“, die charakteristischen Merkmale der „Straßenleiche“ und die der „Leiche bei Tod durch Luftstoß“. So gleichförmig wie das Massensterben sind auch die Todesursachen: neben Verbrennen und Verschüttetwerden vor allem Hitze und Rauchvergiftung. Wer aus den Berichten des Pathologen zitieren will, gerät unversehens in Gefahr, nach dem Prinzip des maximalen Nervenkitzels, der gruseligsten Leichenschau auszuwählen.

Bleibt die unverfängliche Statistik, derzufolge im Feuersturm vom Sommer 1943, den angloamerikanische Bombenflieger über Hamburg entfachten, schätzungsweise 35.000 Menschen getötet wurden. Aber die blanke Zahl, was besagt sie schon über das Inferno, das Unmengen von Bomben, Luftminen und Brandkanister in den dichtbebauten Wohngebieten einer Großstadt entfachten?

Als die deutsche Wehrmacht Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg in Europa provozierte, hatten England, Frankreich und selbst die Naziregierung noch bekräftigt, sie wollten den Luftkrieg nicht gegen die Zivilbevölkerung führen. Indes hatte Görings Legion Condor schon im Spanischen Bürgerkrieg gezeigt, was von den humanitären Absichtserklärungen aus Deutschland zu halten war: Die baskische Stadt Guernica ist bis heute ein Symbol für Terrorangriffe aus der Luft; Rotterdam, Warschau und Coventry folgten.

Auch die britische Luftwaffe gab ihre anfängliche Zurückhaltung auf: Die Altstädte von Lübeck und Rostock wurden im Frühjahr 1942 durch Flächenbrände zerstört. Die systematischen Vernichtungsangriffe aber, die ausdrücklich auch auf die Kriegsmoral der Bevölkerung zielten, begannen wenige Wochen später mit tausend Bombern auf Köln.

Im Gegensatz zum taktischen Luftkrieg, der lediglich die Bodentruppen unterstützt, besteht der von den Militärs sogenannte strategische Luftkrieg aus Flächenbombardements, denen eigenständige, kriegsentscheidende Bedeutung beigemessen wird. Durch die Zerstörung von Treibstoffraffinerien und Rüstungsanlagen, von Energiebetrieben und Verkehrswegen, durch die Einäscherung von Fabriken und Wohngebäuden soll die Fähigkeit des Gegners, den Krieg fortzusetzen, nach und nach zum Erliegen gebracht werden.

Die auf den italienischen General Douhet zurückgehende Doktrin vom strategischen Luftkrieg, die zwischen den Weltkriegen das Denken vieler Militärs beeinflußte, wurde bereits im Ersten Weltkrieg von britischen Militärtheoretikern vorweggenommen. Während des Zweiten Weltkriegs konnte diese Doktrin von der Führung der Royal Air Force dann weitgehend durchgesetzt werden, nicht zuletzt deswegen, weil die Luftwaffe für lange Zeit die einzige Möglichkeit bot, direkt in das Kriegsgeschehen auf dem Kontinent einzugreifen.

Hinzu kamen weitere Gründe, die von banalen technischen Problemen herrührten: Damals war es den Bomberbesatzungen kaum möglich, bei Nacht wirkliche Präzisionsangriffe zu fliegen – schon gar nicht aus einer von der Flakabwehr erzwungenen Flughöhe von 6.000 Meter. So war denn in einer Direktive der Luftwaffenführung vom Februar 1942 offen von „area bombing“ die Rede.

Im Zuge der Brutalisierung, die der einmal entfesselte Luftkrieg mit sich brachte, entwickelte die strategische Aufrüstung der britischen Royal Air Force eine unheilvolle Eigendynamik: Auch nach der Invasion vom Juni 1944 flogen die Langstreckenbomber, die auf den Flugplätzen in Südostengland stationiert waren, Flächenbombardements gegen deutsche Städte. Die Kapazitäten waren nun einmal da, und das Kabinett Churchill, die einzige Instanz, die die Bombergeschwader hätte stoppen können, verhielt sich abwartend – ungeachtet der zunehmenden Kritik aus Kirche und Labour-Partei. So wurde der Luftkrieg, den die britische Luftwaffe führte, zum unrühmlichsten Kapitel der englischen Kriegsgeschichte.

Von daher ist es kein Wunder, daß sich die rechte bis neonazistische deutsche Publizistik nach 1945 immer wieder auf diese politisch-moralische Schwachstelle der alliierten Kriegsführung bezogen hat – in durchsichtiger Aufrechnungsabsicht. Zumal die deutschen Verbrechen das patriotische Bedürfnis nährten, von der eigenen Schande abzulenken.

So ergab sich eine jahrzehntelange Arbeitsteilung: Während man rechts auf die Greueltaten der einstigen Kriegsgegner, „der anderen“, mit Fingern zeigte, postulierte man links Selbstzerknirschung und klagte die Bewältigung der eigenen Vergangenheit ein, vor allem mit Blick auf die Ermordung der europäischen Juden. Wer von Auschwitz sprach, schwieg meist über Hamburg und Dresden – und umgekehrt.

Das vielleicht letzte spektakuläre Beispiel dieser Konstellation war der Konflikt um die Versammlungsfreiheit der NPD. Im Februar 1995 plante ihr damaliger Vorsitzender Günther Deckert, ein notorischer Auschwitz-Leugner, die deutsch-britischen Versöhnungsfeierlichkeiten in Dresden politisch zu stören: Doch seine Demonstration wurde verboten, er und seine Begleiter auf der Autobahn bei Dresden kurzerhand festgenommen und bis zum Ende der Gedenkfeiern aus dem Verkehr gezogen.

Inzwischen lösen sich die alten Muster und Konfrontationen auf. Die Debatte, die im Januar 1998 in den deutschen Feuilletons eröffnet wurde, ist ein beredtes Beispiel dafür, daß man heute die Leidensgeschichte der Deutschen in den Blick nehmen kann, ohne die nationale Schuld zu beschweigen: Im Anschluß an eine These des in England lebenden Schriftstellers W.G. Sebald, der jeder Vaterländerei unverdächtig ist, wird die Frage diskutiert, warum es in der deutschen Nachkriegsliteratur eine erstaunliche Lücke gibt, warum nur wenige literarische Zeugnisse des Luftkrieges zu finden sind – zum Beispiel „Der Untergang“ von Hans Erich Nossack über Hamburg oder „Phosphor und Flieder“ von Max Zimmering über Dresden.

Literatur kann freilich politische Debatten nicht ersetzen. Gemünzt auf den Luftkrieg lautet die entscheidende Frage: War es nicht überaus legitim, Deutschland, das in seiner nationalsozialistischen Gestalt zum „Feind der Menschheit“ geworden war, mit allen nur erdenklichen Mitteln niederzukämpfen? „Operation Gomorrha“ nannten die Strategen des Bomberkommandos ihre Angriffe auf Hamburg und spielten in alttestamentarischer Vergeltungsrhetorik auf den Zusammenhang von Schuld und Zerstörung an.

Was natürlich anmaßend war – schließlich kam mit den Flugzeugen der Royal Air Force kein Gottesgericht über Hamburg, auch wenn viele damals die totale Zerstörung als einen irgendwie verdienten Racheakt, als eine Art göttlichen Vergeltungsschlag erlebt haben mögen. Dennoch, die ganz und gar weltliche Frage bleibt: War im Kampf gegen Hitlerdeutschland, das okkupierte Länder brutal unterdrückte und die sogenannte Endlösung der Judenfrage ins Werk setzte, nicht jedes Mittel recht?

Man sollte versuchen, von letzterem abzusehen: Die Rettung der existentiell bedrohten Juden war kein alliiertes Kriegsziel, wie man heute weiß. Andernfalls hätte es nahegelegen, die Transportwege in die Vernichtungslager zu bombardieren.

Die Positionen in der deutschen Debatte um den angloamerikanischen Luftkrieg sind schon vor dessen Ende ganz exemplarisch bezogen worden: von den Antipoden Thomas Mann und Bertolt Brecht. Die beiden Schriftsteller, Nachbarn im kalifornischen Exil, repräsentieren auf ihre Art das unversöhnliche Zerwürfnis der zeitgenössischen Hitler-Gegner. Thomas Mann, für seinen feinfühligen Humanismus bekannt, ließ über die Sender der BBC seine „deutschen Hörer“ wissen, ungeachtet gewisser Bedenken helfe nur eines: „Schwefelregen über diesen Lügensumpf: Vernichtung, Bomben.“ Bertolt Brecht dagegen notierte: „das herz bleibt einem stehen, wenn man von den luftbombardements berlins liest.“

In seinem „Arbeitsjournal“ findet sich auch ein Luftbild von total zerstörten Hamburger Wohnvierteln; Brecht verdächtigte die imperialistischen Mächte, sie wollten die unterdrückte deutsche Arbeiterklasse treffen. Thomas Mann wiederum betonte den zwiespältigen, den „revolutionär-rückschlägigen“ Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, die es verstand, Massen in ihren Bann zu ziehen; er weigerte sich, die Deutschen umstandslos als unterdrücktes Volk anzusehen.

Womit Thomas Mann, der im Grunde unpolitische Literat, der trostlosen historischen Wahrheit näher kam als sein marxistisch geschulter Kollege Brecht, der auf das „andere“ Deutschland hoffte. Wo aber blieb der Widerstand der Arbeiter? Während die britische Luftwaffe über Frankreich, Dänemark oder der Tschechoslowakei Waffen, Munition und Funkgeräte abwarf, gab es in Deutschland keine Widerstandsgruppen, die so etwas hätten gebrauchen können.

Von daher ist auch der oft so gedankenlos verwendete Begriff der „unschuldigen Zivilbevölkerung“ zu relativieren. Man muß nur einen kurzen Blick auf die deutsche „Volksgemeinschaft“ jener Tage werfen. Der gewaltsam zugefügte und erlittene Tod ist der große Gleichmacher, wie die Studien des Hamburger Pathologen drastisch belegen, doch die Trauer macht die Toten nicht gleich! Hans Magnus Enzensberger schrieb 1993: „An den halb mulmigen, halb apathischen Schrecken der Bombenangriffe kann ich mich gut erinnern. Und die Erwachsenen, die da auf der Kellerbank kauerten und lauschten und denen die ,Terrorangriffe' der Alliierten galten, waren die ,unschuldige Zivilbevölkerung'. Jedesmal, wenn ich diese Worte höre, gerate ich ins Grübeln. [...] Diese Menschen schießen und foltern nicht. Ihre Gesichter sind nicht vom Nächstenhaß gezeichnet. Sie sind grau vor Erschöpfung. Aber das war nicht immer so. Mit der ,unschuldigen Zivilbevölkerung', die im Keller saß, während die Phosphorbomben die Stadt in ein Flammenmeer verwandelten, war eine seltsame Veränderung vorgegangen. Ich weiß nämlich, wie ihre Augen geleuchtet hatten, jedesmal, wenn der Führer sprach...“

Und das Völkerrecht? War der Luftkrieg gegen die deutschen Städte, der ausdrücklich auch der Zivilbevölkerung galt, nach den damaligen Standards des Völkerrechts legal oder eben doch eine Art Kriegsverbrechen? In dieser Frage kann man sich kurz fassen: Zwar gab – und gibt es bis heute – keine Kodifikation entsprechender Schutzgarantien, das Völkerrecht hinkt der rasanten Entwicklung von Luftfahrt- und Raketentechnik hinterher. Aber bis zum Jahr 1939 hatte sich in der Staatenpraxis ein Gewohnheitsrecht herausgebildet, das den Luftkrieg auf „militärische Ziele“ beschränkte. Selbst wenn man darunter auch Anlagen der Kriegsproduktion und ähnliches versteht, sind Flächenbombardements auf Wohngebiete keinesfalls gerechtfertigt. Daß in Deutschland vierhunderttausend Menschen, darunter einige tausend Säuglinge und Kinder, verbrannten, erstickten, verkohlten, ist also nicht einfach als unvermeidliche Folge eines gerechten Verteidigungskrieges zu verbuchen. Ganz abgesehen davon, daß die Flächenbombardements ihr strategisches Ziel weitgehend verfehlten: Weder kam die deutsche Rüstungsindustrie zum Erliegen, noch erlahmte der Kriegswille der Deutschen, die bis zur bedingungslosen Kapitulation gehorchten und stillhielten.

Man kann den Luftkrieg gegen deutsche Städte also kritisieren, kann ihn verstehen, ja, ihn bis zu einem gewissen Grade sogar rechtfertigen: All dies bleibt aber die Reflexion eines Dilemmas. Günter Kunert hat es in seiner kürzlich erschienenen Autobiographie in eine unscheinbar daherkommende Anekdote gefaßt.

Berlin, April 1945. Der gerade Sechzehnjährige sitzt im Luftschutzkeller, abseits, in der für „Halbjuden“ zugewiesenen Ecke, und wird Augen- und Ohrenzeuge der folgenden Szene: „Einer der Mieter hat in weiser Voraussicht seinen Detektorempfänger von 1922 nicht weggeworfen. Man erblickt eine gebeugte, wie von Barlach zum Klumpen geformte Figur in einer Ecke, Kopfhörer auf den Ohren, unentwegt mit dem Stift unter der Glasabdeckung den Kristall, der auf elektromagnetische Wellen anspricht, abtastend. Er ist das Ohr zur deutschen Welt, die sich auf fünf Berliner Bezirke reduziert hat. ... Bahnhofsatmosphäre. Wartesaal dritter Klasse. ... Der Detektorbesitzer ist in der Haltung des Lauschenden immer mehr in sich zusammengesunken. Ohnehin herrscht eine gespannte Reglosigkeit. (...Wir werden) aufgestört von nebenan ausbrechender Hektik... Der Detektormensch hat eine neue Nachricht aus dem Äther geholt. Und wir werden sogleich eine Falsettstimme mit dem um zwölf Jahre verspäteten Satz vernehmen: ,Der Führer ist tot!'“ „Um zwölf Jahre verspätet“ – darin liegt die letzte, die am schwersten wiegende Ursache für den Luftkrieg.

Die Alliierten mögen ihren Krieg gegen Nazideutschland mit teils völkerrechtswidrigen Mitteln geführt haben, es bleibt aber ein Krieg für das Völkerrecht. In den Bildern, die es von den auf dem Dresdner Altmarkt geschichteten Bombenopfern gibt, und denen, die die Öfen der Vernichtungslager zeigen, in diesen Bildern mischen sich Unglück und Schuld der Deutschen auf unheimliche Weise.

Horst Meier, 44 Jahre, ist Jurist und lebt in Hamburg. Er schrieb vor zwei Wochen im taz.mag über Gary Lauck, den „Letzten Postboten des Führers“.