Zizou hat's vorerst gerichtet

Das Theaterfestival in Avignon profitiert von Frankreichs neuer multiethnischer Euphorie. Die Banlieue rückte aber nur kurz ins Zentralbewußtsein der Gesellschaft  ■ Von Jürgen Berger

Daß ausgerechnet Zinedine Zidane im Endspiel zweimal den Kopf für Frankreich hinhielt und die Sache mit der „Mondiale“ richtete, hätte besser nicht kommen können. Der sanfte Mittelfeldsurfer algerischer Abstammung hat die Franzosen vorerst gegen die rassistische Ausgrenzungspolitik der Front Nationale (FN) vereint. Seit Zizou wird das alltägliche französische Sein von multicolorierter Euphorie beherrscht, hat die von sich selbst berauschte Grande Nation entdeckt, daß sie nur groß ist, weil in den Vorstädten die Hautfarben der Welt sich mischen. Den Frontmann der FN, Le Pen, muß das derart verschreckt haben, daß er in eine Folies-Bergère-Show der Californian Dream Men flüchtete und dort auch prompt gesichtet wurde.

Dank des maghrebinischen Außenristschmeichlers ist die FN etwas kleinlauter geworden. Im Süden allerdings, wo sie in Städten und Regionalparlamenten häufig den Kurs bestimmt, verdichten sich die Wolken schon wieder. Also argumentiert man auf den Diskussionsforen der Sommerfestivals gegen FN-Übergriffe auf die Kulturinstitutionen. Und auf dem weltgrößten Theaterfestival in Avignon soll auf der Bühne selbst politisches Theater Raum greifen.

So jedenfalls will es Festivalchef Bernard Faivre d'Acier, der beim jungen Autor und Regisseur Xavier Durringer ein Zeitstück bestellt hat. Durringer (35), vor Jahren in Avignons Off-Programm und als Filmregisseur mit „La nage indienne“ 1993 beim Berliner Filmfestivals vertreten, hat denn auch prompt das Stück zur politischen Lage der Nation geschrieben und selbst inszeniert. „Surfeurs“ wird nach der Festivalpremiere unter anderem im Pariser ThéÛtre National de la Colline gespielt und zeigt einen Lokalpolitiker, der von seiner Partei auf Wählerfang in eine der französischen Banlieues geschickt wird.

In solche multiethnischen Hochöfen trauen französische Berufspolitiker sich eigentlich nicht mehr. Von hier aus geht die Reise eher in andere Richtung wie im Falle von Zizou, der in La Castellane im Norden Marseilles als Sohn eines Nachtwächters aufwuchs. Eines jener Tellerwäschermärchen, das die Banlieue kurz ins Zentralbewußtsein der Gesellschaft rückt, ansonsten allerdings will der Franzose mit seinen multiethnischen Problemzonen eher nichts zu tun haben. Daran wird auch ein Stück wie „Surfeurs“ nichts ändern, da es an Klischeeüberhang leidet und Vorurteile gegen korrupte Politiker und Ghettogangster zementiert.

Die Banlieue als Zoo, und am Ende sind alle froh, daß tagespolitische Aktualität auf begleitenden Podien sowieso besser exekutiert wird. Etwa wenn Frankreichs Kulturministerin Catherine Trautmann als Festivalouvertüre die tiefe Kluft zwischen nationaler und regionaler Kulturförderung verdeutlicht. Sie kündigte an, der Papstpalast in Avignon werde vom Staat gekauft, restauriert und bleibe dem Festival als Spielort erhalten. Das ist auch deshalb ein wichtiges Signal, weil Avignon im Jahr 2000 Kulturhauptstadt Europas sein wird und die regionale Kulturpolitik dank des FN-Kulturkampfes gegen angeblich linkslastige Kulturinstitutionen einen historischen Tiefststand erreicht hat. In Montpellier zum Beispiel, siebzig Kilometer von Avignon entfernt, will der FN-Vorsitzende Alain Jamet der renommierten Experimentierbühne ThéÛtre des Treize-Vents, dem Centre Choreographique Nationale und Orchesterdirektor René Koering mit Hilfe des bürgerlichen Regionalpräsideten Jacques Blanc die Mittel streichen.

Dagegen kann die Zentralregierung direkt nichts unternehmen, also versucht die Kulturministerin mit einer 3,6-Prozent-Erhöhung des Kulturbudgets für 1999 gegenzusteuern und dem rassistisch heimattümelnden Kulturbegriff der FN die Forderung nach einer Kultur der Internationalität entgegenzustellen. Beides dürfte Avignons Festivalchef Bernard Faivre d'Acier mit gemischten Gefühlen vernommen haben. International geht es in seinem Festival alleine aufgrund des alljährlichen fernöstlichen Schwerpunktes sowieso zu, während die Erhöhung des nationalen Kulturbudgets kaum Auswirkungen auf seine Portokasse hat. In den letzten Jahren schmolz das Festivalbudget auf 65 Prozent einstiger Größe, allein 1997 mußte Faivre d'Acier eine 15-Prozent-Kürzung hinnehmen.

Das frappierende Ergebnis: Trotz des Trends zur koproduktiven und kostensparenden Grundversorgung europäischer Festivals nach dem Motto „Brook, Bondy und Mnouchkine für alle“, setzte Faivre d'Acier dieses Mal deutlich auf kleine und teilweise eigens für Avignon produzierte Originalprodukte. Der Lyriker, Musiker und Maler Roland Dubillard etwa legte mit „Je dirai que je suis tombe“ ein von Beethoven begeistertes Personen-Quartett der abschüssigen Boulevardklasse vor, während Yves Pages und François Wastiaux sich in einer Erkundung unserer medialen Scheinwelt verloren.

In „I Parapazzi“ schwänzt ein Kriegsschauplatz-Paparazzo eine Podiumsdiskussion zum Thema, der Rest ist angestrengtes Stochern im experimentellen Raum der freien Gruppe „Valsez-Cassis“. Das Interessante: Die Schauspieler gehören allesamt einer jungen Generation an, die sich vom Bühnenrampen-Deklamationsstil wegbewegen, der unter anderem in schöner Regelmäßigkeit bei der alljährlichen Eröffnungs-Großproduktion im Papstpalast offeriert wird. Dieses Jahr war der Hölderlinsche „Ödipus“ an der Reihe, angesichts der Stop-and-go-Inszenierung Jean-Louis Martinellis erübrigt sich jeder Kommentar.

Martinelli ist, Jacques Lassalle war Intendant des ThéÛtre National de Strasbourg und arbeitet derzeit mit der freien Gruppe „Compagnie pour mémoire“. Mit der Uraufführung von „Chaos Debout“ hat er der 36jährigen Autorin Veronique Olmi ein Theater- Entree der Extraklasse verschafft. Daß das Chaos noch vor den Figuren des Stücks liegt, hat mit ihrer Situation in einer überbevölkerten Moskauer Mehrfamilienwohnung zu tun, in die Youri aus dem Tschetschenienkrieg heimkehrt, während seine Frau Katja daran verzweifelt, daß er ein gebrochener Mann ist.

Das Stück ist von der realistischen Art, das Bühnenbild hyperrealistisch und das Ganze ein Beispiel für junges französisches Theater jenseits der Deklamationsgrenze, wo es für das französische Theaters weitergehen kann – dereinst, wenn Zizou die Nationalmannschaft trainieren wird und Le Pen sich ins Stadion schleicht, um zur Abwechslung dort multiethnische Dream Men zu bewundern.