Heimatfilmer der Philosophie

Der amerikanische Philosoph Michael Walzer beschäftigt sich mit Fragen der Toleranz – und plädiert für die lebendige Differenz. So ganz nebenbei zertrümmert er die linke Gesellschaftskritik in ihrer Tradition „von oben und außen“. Eine Kritik ohne Kontakt zur unmittelbaren Umgebung, aber im glühenden Gefühl globaler Zuständigkeit – wie bei Herbert Marcuse oder Rosa Luxemburg. Ein Essay  ■ von Mariam Lau

In einem Brief an ihre Freundin Mathilde Wurm schrieb Rosa Luxemburg einmal, sie habe in ihrem Herzen keinen besonderen Platz für die Nöte der Juden. Sich von den eigenen Wurzeln entfernt zu haben und nun für die ganze Menschheit zuständig zu sein, gehört zu einem bestimmten Typ der Gesellschaftskritik von links, seit es sie gibt. Michael Walzer, Philosoph und jüdischer Amerikaner, 1935 in New York geboren, plädiert in seinen Büchern für eine Grundüberholung dieses Modells.

Begonnen hat er damit in „Exodus und Revolution“ (1988), als er die Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten gewissermaßen aufnahm als erzählerischen Rahmen, in dem man über Unterdrückung und Befreiung in dieseitigen statt wie üblich in apokalyptischen Begriffen reden konnte. „Überall ist Ägypten“, schrieb Walzer und erteilte damit allen vermeintlichen letzten Gefechten – ob Revolution oder Jüngstes Gericht – eine Absage. Es gibt keinen Endkampf, wie ihn sich die kommunistische Linke vorstellte, sondern stets nur eine lange Reihe von Reformen, Rückschlägen und neuen Versuchen.

Walzers Lieblingsbeispiel für die Tradition der Kritik „von oben und außen“ – der Kritik ohne Kontakt zur unmittelbaren Umgebung, aber im Gefühl globaler Zuständigkeit, wie sie auch aus Luxemburgs Schriften spricht – ist Herbert Marcuse, dessen man sich jetzt zu seinem hundertsten Geburtstag so freundlich erinnert.

Marcuse machte im US-Exil die erstaunliche Entdeckung, daß Amerikaner „glückliche Sklaven“ seien, die sich durch Autos und Waschmaschinen gefügig machen ließen. Zu ihren wahren Bedürfnissen könne sie, wenn überhaupt etwas, nur eine Erziehungsdiktatur – mit einer philosophischen Elite an deren Spitze – führen.

Walzer hegt nun den starken Verdacht, daß Marcuse es nie auf ein Gespräch mit einem Amerikaner, der Wäsche wäscht, Auto fährt oder Schundromane liest, ankommen ließ. Dann hätte er leicht feststellen können, daß sie dabei durchaus andere Ziele im Auge zu behalten in der Lage sind. „Der Philosoph“, schreibt Walzer, „blickt auf die Gesellschaft, wie Camus aus seinem Flugzeug auf die Welt herabblickte, nämlich mit den Augen eines absolutistischen Gottes. [...] Kritiker gehen jedoch kaum über die Grenzen von Standardfrömmigkeit hinaus, wenn sie selbst nicht von einem gewissen Grad zumindest ethnographischer Neugier angetrieben werden. Marcuse ist standhaft und unerschütterlich fromm.“

Walzers komplizierteste Intervention war wohl sein Buch „Lokale Kritik, globale Standards“ (1996). Darin beschäftigt er sich mit dem Lieblingshader der klassischen Moralphilosophie, dem Konflikt zwischen Partikularismus und Universalismus. Mit einem eleganten Trick läßt er den vermeintlichen Gegensatz in sich zusammenschnurren. Statt anzunehmen, es gäbe ein kleines Bündel überall geltender Prinzipien, eine „dünne Moral“, die dann jeweils lokale Interpretationen erführe und zu einer „dichten“ Moral ausgehandelt würde, wie es die Habermassche Diskursethik sich vorstellt, kehrt er die Reihenfolge um: „Jede Moral ist von Anfang an ,dicht', das heißt kulturell integriert und Teil eines komplizierten Gewebes; nur zu besonderen Anlässen erweist sie sich als ,dünn', nämlich dann, wenn die Sprache der Moral ganz bestimmten Zwecken dienen soll.“

Der irische Oranierorden beruft sich aus denselben pragmatischen Gründen auf Toleranz wie die indonesischen Studenten oder die Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin – auch wenn ihre Vorstellungen, was darunter zu verstehen ist, genauso weit voneinander entfernt sind wie die Lebenszusammenhänge, in denen sie diese Vorstellungen erworben haben. „Die entscheidende Gemeinsamkeit der menschlichen Rasse ist ihr Partikularismus“, meint Walzer. „Mit dem Ende der totalitären Herrschaft sollten wir wenigstens diese Gemeinsamkeit anerkennen.“

Hat man sich gerade darauf eingerichtet, in ihm den Heimatfilmer der Philosophie zu sehen, einen sozialdemokratischen Kommunitaristen, plädiert er für die „Kunst der Trennung“. In „Sphären der Gerechtigkeit“ (1992) verteidigt er die Linien, die auf der Landkarte liberaler Gesellschaften teilen, was vorher zusammengehörte: das Recht von der politischen Macht, die Wirtschaft von der Moral, die Wissenschaft von der Religion, die Privatsphäre von der Öffentlichkeit. „Die berühmteste Trennlinie ist die zwischen Kirche und Staat verlaufende ,Mauer', aber es gibt zahlreiche andere“, sagt Walzer. „Der Liberalismus ist eine Welt von Mauern, und jede erzeugt eine neue Freiheit.“

Die Freiheit, die Walzer meint, ist aber trotzdem nicht die Luftperspektive des Großkritikers. Sie ist auch nicht die Freiheit der Postmoderne, als deren Gewährsfrau er Julia Kristeva mit ihrer Hoffnung zitiert, wir mögen bald in einer Gesellschaft von Fremden leben, in der jeder einzelne auch „das Fremde in sich“ anerkenne. „Die Moderne kommt [...] nicht ohne die anhaltende Spannung zwischen Individuum und Gruppe, Bürger und Mitglied aus. Die Postmoderne muß ihrerseits in einem ständigen Spannungsverhältnis zur Moderne verharren: zwischen Bürgern und Mitgliedern auf der einen Seite und dem geteilten Selbst, dem in jeder Kultur Fremden.“

Der Witz der Toleranz liegt für ihn nicht darin „jedes ,wir' und ,sie' auszumerzen (und ganz sicher nicht ein ,ich')“, sondern eben in der Spannung zwischen der radikalen Freiheit und den Widerständen, auf die sie trifft. Etwa: Wer bist du, wenn nicht auch das Resultat deines Widerstands gegen die Traditionen deiner Eltern?

In seinem jetzt bei Rotbuch erschienenen, wiederum mit einem instruktiven Nachwort von Otto Kallscheuer versehenen Buch „Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz“ nimmt er die Schwierigkeiten in den Blick, die sich ergeben, wenn offene Gesellschaften geschlossene Gemeinden beherbergen. Die Fragen, die ihn zu diesem Buch getrieben haben, finden sich in jeder Nachbarschaft.

Das Ende des Eisernen Vorhangs hat die Wanderbewegungen in der Weltgesellschaft noch beschleunigt. Es gibt immer weniger Gegenden, in denen Staatsbürgerschaft und Ethnizität zusammenfallen. Die Solidaranforderungen an die Staatsbürger – Renten zu teilen, fremde Sprachen zu lernen, Ressourcen umzuleiten – wachsen und wachsen, während die ethnischen und kulturellen Gemeinsamkeiten zusehends dünner werden.

Soll man es zulassen, daß die religiösen Amish People im US-Staat Pennsylvania ihre Kinder von staatlichen Schulen nehmen? Ist die Klitorisbeschneidung eine Glaubenssache – und damit Privatangelegenheit? Darf eine Lehrerin in Baden-Württemberg unterrichten, auch wenn sie sich offen zum Islam bekennt? Wieviele Ehen darf ein Mormone in Utah schließen?

Für die Antwort auf solche Fragen gibt es verschiedene Modelle. Alle sind in der einen oder anderen Form eine Erbschaft der europäischen Glaubenskriege und der ersten großen Toleranzdebatte des 17. Jahrhunderts. Von den beiden prominentesten Antipoden der Debatte, Thomas Hobbes mit seinem „Leviathan“ (1651) und John Locke mit „Letter Concerning Toleration“ (1689), hält Walzer es lieber mit Locke.

Während Hobbes sich bekanntlich dafür stark gemacht hatte, alle Fragen der Religion in die Hände des politischen Souveräns zu legen, plädierte Locke für die Zivilisierung von Konflikten durch Grenzziehung. Das „Teile und Herrsche“ des Römischen Imperiums gewinnt unter diesem Blickwinkel eine ganz neue Plausibilität. Das System war zwar autokratisch, aber eben allen Gruppen gegenüber gleich. Wahrscheinlich regierten die römischen Prokonsuln in Ägypten oder die britischen Regenten in Indien unparteiischer, als das ein einheimischer und damit einer speziellen Gruppe angehörender Fürst oder Tyrann getan hätte.

Das Imperium toleriert Gruppen, läßt sie – wie das Osmanische Reich die Juden oder die Armenier – ihren Kult pflegen, ihre Kinder unterrichten und eine eigene Rechtsprechung beibehalten. Aber die Mitglieder dieser „Millets“ waren ihren Gemeinden gegenüber schutzlos; hatten weder Vereins- noch Gewissensfreiheit.

Die Konföderation hingegen – das Zerfallsprodukt der großen Imperien – versucht sich an einem zwanglosen Aushandeln einer gemeinsamen Verfassung mehrerer Gemeinschaften. Ob die Sache funktioniert, hängt, so Walzer, vom Vertrauen ab: „Gegenseitige Toleranz beruht auf Vertrauen, auf Vertrauen weniger in den guten Willen des anderen als in die institutionellen Einrichtungen, die vor den Folgen des Übelwollens schützen.“

Aufgrund dieses Problems sei beispielsweise der Libanon auseinandergebrochen. Der Schweiz hingegen ist es gelungen, die gemeinsamen Einrichtungen der Konföderation sogar mit einer eigenen „Erzählung“, eigenen Liedern und Symbolen zu einer dichten Matrix zu fügen, die selbst schon zur Identitätsfindung taugt.

Im Nationalstaat, Deutschland etwa, ist der politische Apparat „eine Maschinerie für die nationale Reproduktion“, gerechtfertigt durch „die menschliche Leidenschaft, die Zeit zu überdauern.“ Im Nationalstaat gewährt eine ethnisch und kulturell dominante Gruppe – wenn es sich um einen liberalen Staat handelt – Minderheiten Toleranz; aber nicht als Gruppe, sondern als Individuen. „Ein Deutscher auf der Straße, ein Jude zu Hause“ charakterisiert diese Art von Arrangement seit dem 19. Jahrhundert.

Die Religion ist Privatangelegenheit der Bürger. Ihre Vereinigungen sind freiwillig, sie dürfen ihre Mitglieder nicht zwingen. Eine partikulare Rechtsprechung gibt es nicht, wohl aber staatsferne Kulturvereine, Verlage, Wohlfahrt. Wie jeder Einwohner des Berliner Bezirks Kreuzberg weiß, ist dieses Arrangement prekär. Sein Funktionieren ist vor allem in dem Moment gefährdet, in dem eine ethnische Minderheit zugleich auch sozial deklassiert ist.

„Ihr Lieblingsmodell sozialer Kontrolle“, so schrieb der englische Philosoph Ernest Gellner über die Industriegesellschaften, „ist der universelle Einsatz von ,Dänengeld': Soziale Aggression wird mit materieller Bereicherung abgekauft; und ihre größte Schwäche liegt demgemäß in ihrer Unfähigkeit, jede auch nur vorübergehende Reduzierung des gesellschaftlichen Bestechungsfonds zu überleben, das heißt in jenem Legitimationsverlust, der sie immer dann unweigerlich befällt, wenn das Füllhorn verstopft ist und der Fluß des Geldes stockt.“

Die Frage ist also: Gibt es eine Legitimation für Nationen, die nicht chauvinistisch ist, aber trotzdem mehr Sexappeal hat als die – auch nicht zu verachtende! – Hoffnung auf stetigen materiellen Progreß?

Richard Rorty – ebenfalls Philosoph und jüdischer Amerikaner – hält, wie Walzer, die Einwanderungsgesellschaft Amerika noch immer für ein brauchbares Modell. In seinem bislang nur auf englisch erschienenem neuesten Buch „Achieving Our Country“ wirbt er für den Traum der permanenten Selbsterfindung, die „Romanze der endlosen Diversität“, ohne damit allerdings für einen gleichgültigen Multikulturalismus zu plädieren. „Das Wort suggeriert eine ,Leben-und-Leben-Lassen'-Moral, in der die Mitglieder verschiedener Kulturen ihre eigene gegen das Eindringen der anderen in Schutz nehmen.“ Statt dessen sollte sie und ihre Vorstellungen vom guten Leben lieber miteinander in Konkurrenz treten.

Zu großen Teilen ist Rortys Buch eine Ruckrede an die neue, akademische Linke Amerikas, die sich mit ihrem vom französischen Philosophen Michel Foucault beeinflußten zynisch-paranoiden Antiamerikanismus ebenso ins Abseits manövriert hat wie die Marcuse-Anhänger der sechziger Jahre.

Michael Walzer und Richard Rorty, zwei der hoffnungsvollsten Geister der amerikanischen Intellektuellenszene, erklären der Dekonstruktion – wenn nicht den Krieg, so doch ihre Ungeduld. Nach dem Motto: Na schön, wir haben verstanden, es gibt keine Letztbegründungen mehr, kein klassisches Subjekt, keine linearen Erzählungen... Mag sein! Wenn die letzte Erzählung dekonstruiert und das letzte Subjekt aufgelöst ist, werdet ihr merken, daß man Signifikanten nicht essen kann! Konkret: Wenn man ein Problem zu entscheiden hat wie die Frage, ob eine Lehrerin im deutschen Schuldienst im Unterricht ein Kopftuch tragen darf, ist es herzlich egal, ob zwischen dem Signikanten Kopftuch und dem Signifikat Islam lediglich eine willkürliche Beziehung besteht.

Als Student im Sommer 1957 fuhr Walzer mit seiner Frau auf einem Schiff nach Israel. Außer den beiden amerikanischen Studenten bestand der Rest der Passagiere aus Flüchtlingen. Die einen waren polnische Juden, die nach dem „Polnischen Oktober“ und den „Reformen“ Gomulkas flohen, die anderen kamen aus Ägypten, wo sie nach dem Suez-Krieg nicht mehr als Juden unter Arabern leben konnten. Während die Polen meist Atheisten, überwiegend Kommunisten waren, waren die Ägypter orthodox – aber auf die sephardische-ägyptische Art: kosmopolitisch, französisch, fromm.

Zwischen ihnen hin und her gingen Mitarbeiter der Jewish Agency, die sie auf das Leben in Israel vorbereiten sollten. Sie lehrten die Polen die Hatikwa singen, das Lied vom Gelobten Land. Als die Höhen des Karmel südlich von Haifa in den Blick kamen, standen alle an Deck. Einer fing leise an zu singen, die Ägypter schlossen sich an, die Polen, schließlich auch Walzer und seine Frau, Nachfahren polnischer Auswanderer, die mit dem Gelobten Land noch Amerika gemeint hatten.

„Und dann sangen wir alle“, schreibt Walzer, „die meisten von uns weinten, und ich begriff sehr gut, was diese Menschen miteinander gemein hatten. Sie teilten die Hoffnung auf einen Ort, wo sie in Sicherheit leben und sich zu Hause fühlen konnten, als Juden, die beteten, und Juden, die nicht beteten.“ Vielleicht ist diese Hoffnung das höchste der Gefühle.

Michael Walzer: Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Rotbuch-Verlag, Hamburg 1998

Richard Rorty: Achieving Our Country. Leftist thought in Twentieth Century America. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 1998 (Bezug über Amazon.Com. im Internet)