Nicht wie beim Tatort-Krimi

■ Notruf-Frauen kritisieren Polizei-Ermittlungen bei Vergewaltigungen: Spurensicherung fehlt, Adresse von Zeugen verschlampt Von K. Kutter

Spurensicherung, Laboranalysen, Sofortfahndung, banale Dinge, wie sie der Zuschauer aus Tatort-Krimis kennt, sind in der Realität bei Vergewaltigungsverbrechen überhaupt nicht selbstverständlich. So lautet jedenfalls das Fazit, das die Mitarbeiterinnen von „Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen“ ziehen, dem Verein, der seit 15 Jahren als einzige Anlaufstelle für Vergewaltigungsopfer dient.

„Es ist, als ob die Kripo ihre Arbeit überhaupt nicht ernstnimmt“, sagt Notruf-Frau Uta Boyksen. Die Psychologin war vor 18 Jahren selbst bei der „Sitte“, wie die Abteilung für Sexualdelikte (LKA 213) unpassenderweise heute intern immer noch heißt, und erinnert aus dieser Zeit, daß diese Arbeit in der Polizeihierarchie „ganz weit unten“ steht. Doch während „Notruf“ in den 80er Jahren einige Verbesserungen durchsetzen konnte – beispielsweise galt als gesichert, daß Frauen nur von Polizistinnen vernommen werden – sei das Faß vor kurzen wieder „zum Überlaufen“ gekommen.

Krasses Beispiel: der Fall von Sabine Schmidt, die im September –93 in ihrer Wohnung überfallen und brutal vergewaltigt wurde. Der Täter klingelte an der Tür, bat um einen Schreiber und um Einlaß, weil er nicht gut schreiben könne, und verband seinem Opfer Hände und Augen mit Klebeband. Sabine Schmidt gelang es nach der Tat, sich zu befreien. Sie rannte auf den Balkon und machte einen Passanten auf den flüchtigen Täter aufmerksam. Der Zeuge wurde zwar von der Polizei vernommen, die eine halbe Stunde später eintraf. Doch als Sabine Schmidt einige Zeit später dessen Nummer anforderte, weil sie mit ihm gemeinsam ein Phantombild erstellen wollte, hieß es bei der Kripo, die Adresse existiere nicht.

Der Täter hatte eine zuvor frisch abgewischte Küchenplatte angefaßt, an der sich Fingerabdrücke befunden haben mußten. Doch die Kripo schickte nicht einmal die Spurensicherung vorbei. Das Opfer hatte den Täter nur kurz gesehen, bemühte sich, dennoch ein Phantombild zu erstellen. Doch die Daten über Täter und Tathergang, die Sabine Schmidt später im Wochenblatt wiederfand, seien „völlig falsch“ gewesen, ärgert sich die Frau. Auch wurde dort von einer „Sofortfahndung“ berichtet, die die Polizisten gegenüber Sabine Schmidt mit der Begründung, der Täter sei längst weg, abgelehnt hatten.

„Hätte die Kripo Fingerabdrücke, könnte sie Wiederholungstäter schneller dingfest machen“, sagt Notruf-Mitarbeiterin Jutta Brandewiede. Doch der „Bleistift-Trick“ wiederholte sich im November 1994. Auf Nachfrage von Notruf bei der Kripo, ob es nicht so etwas wie eine Täterdatei oder Tätersystematik gibt, wurde dies verneint. So wundert es Jutta Brandewiede auch nicht, daß ihr in fünf Jahren Beratungstätigkeit nur ein einziger Fall unterkam, bei dem der zuvor unbekannte Täter gefaßt wurde.

Bei stringenter Ermittlung hätte laut Notruf auch die im Februar erfolgte Wiederholung dieses Falls verhindert werden können: Im August–93 wurde die Bergedorferin Petra Eckhardt von einem anderem Fahrradfahrer vom Rad gestoßen und vergewaltigt. Der Täter ließ das silberne Rad, das eine auffällige Anhängerkupplung hatte, am Tatort zurück. „Meiner Meinung nach hätte die Kripo danach forschen müssen, wem es gehörte“, sagt Petra Eckhardt heute. Wie bei einer entlaufenen Katze hätten Schilder an die Laternenpfähle gehört. Doch statt auf den Täter konzentrierten sich Polizei und Presse auf das Opfer. Petra Eckhardt sollte sich einem Alkoholtest unterziehen, wurde nicht zur gynäkologischen Untersuchung geschickt. Tags darauf las sie in der Lokalzeitung zwar nicht ihren Namen, wohl aber ihr Alter und die Namen der Kneipen, die sie vor der Tat besucht hatte: „Da wußten alle meine Bekannten, daß ich das Opfer war“.

Die Beispiele der Notruf-Frauen für Schlampereien sind vielfältig. So wurde ein Verdächtiger zwar auf der Wache fotografiert, jedoch versäumt zu notieren, welche Kleidung er trug. Das Opfer hatte nicht das Gesicht, wohl aber ein rotes T-Shirt erinnert. In einem anderen Fall ließ die Kripo das Klebeband, mit dem eine 18jährige in Duvenstedt gefesselt wurde, am Tatort liegen – der Beweis dafür, daß der Täter das Opfer gezwungen hat.

Damit der Tatbestand der Vergewaltigung vor Gericht anerkannt wird, muß eine Frau nachweisen, daß ihr Gewalt angetan wurde. „Die Polizei ist das Organ, das ihr dabei helfen müßte“, sagt Uta Boyksen: „Aber das tut sie nicht“. So werde nur in seltensten Fällen eine Rechtsmedizinische Untersuchung angeordnet, die nötig wäre, um Gewalt- und Spermaspuren festzustellen. Meistens würden die Opfer nur zur Ambulanz städtischer Krankenhäuser geschickt, die aus fachlicher Unkenntnis die oft tiefer vorhandenen Sperma-Spuren und auch die erst nach drei Tagen hervortretenden Hämatome übersähen.

„Notruf e.V.“ will seine Kritik konstruktiv verstanden wissen, fordert vor allem Fortbildung, mehr Personal und Supervision für die Beamtinnen. Einen Versuch, den die Kripo jüngst selbst unternommen hat, um die Arbeit zu verbessern, den sogenannten „Opferfragebogen“, lehnen die Expertinnen jedoch ab. Begründung: Dreiviertel der Fragen befassen sich wieder nur mit der Tat und dem Verhalten des Opfers. „Als ich den Fragebogen erhalten hab, hab ich ihn wütend in die Ecke geschleudert“, sagt Sabine Schmidt: „Ich krieg von denen gar nichts, und die wollen von mir jetzt alles wissen.“