■ Die Reformkommunisten versäumten 1968 die Chance, sich gegen den sowjetischen Einmarsch zu wehren. Interview mit Jaroslav Šabata
: „Die fatale Wiederholung von 1968“

taz: Heute vor dreißig Jahren fielen die Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein. Hat es eine Alternative zur Politik des schrittweisen Zurückweichens gegeben, die die Parteiführung um Dubček nach der Invasion praktizierte?

Jaroslav Šabata: Für mich ist das eine rhetorische Frage. Eine solche Alternative gab es. Es gab die Möglichkeit eines Kompromisses, der die Substanz der Reform und, wenn man so will, die Ehre der Reformkommunisten gerettet hätte. Nötig wäre gewesen, daß die Parteiführung sich auf die Strategie des gewaltlosen Massenwiderstandes gestützt hätte. Es wäre möglich gewesen, diesen spontanen Widerstand in eine realistische Politik gegenüber der Sowjetunion zu übersetzen. Aber die damalige Führung hat ihn im Stich gelassen.

Hätte das Kräfteverhältnis in der Kommunistischen Partei eine solche „Massenlinie“ zugelassen?

Das Kräfteverhältnis war ungemein günstig, gerade nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten. Auf dem Parteitag von Visocany war ein neues Präsidium gewählt worden. Die Dogmatiker, die die sowjetische Intervention befürworteten, waren damals absolut isoliert. Heute glaube ich, daß der eigentliche Kampf nicht der mit den Sowjets war, sondern daß er sich in unseren eigenen Reihen abspielte: zwischen denen, die schrittweise aufgaben, und denen, die die Idee des demokratischen Sozialismus weitertragen wollten.

Warum haben Dubček und seine engsten Mitarbeiter nach der Invasion so sehr versagt?

Sie sahen die Sowjets nicht als das an, was sie wirklich waren, sondern als „Bruderpartei“. Alles sollte nach der Invasion mit den Sowjets abgeklärt werden, so daß es zu einem wirklichen Konflikt gar nicht kommen kann. Die Führung verfolgte die Volksbewegung nach der Invasion mit Mißtrauen, dem gleichen Mißtrauen, das sie der ganzen spontanen Demokratisierung des Jahres 1968 entgegengebracht hatte.

Die Führung hatte nicht verstanden, daß sich in der Tschechoslowakei 1968 eine quasirevolutionäre Bürgerbewegung gebildet hatte, die im Grunde nicht antisozialistisch war.

Könnte man demnach sagen, der 21. August war ein katastrophales Datum, aber nicht die eigentliche Katastrophe?

So ist es. Vladimir Kučera, ein konservativer Publizist, hat kürzlich geschrieben, daß es eigentlich den 21. August zweimal gab: 1968 und 1969. 1969 waren es die tschechoslowakischen Truppen, die gegen die demokratische Reform antraten. Das ist keine Metapher, in Brno hat es fünf Tote gegeben. Miliz und Polizei hatten im Vergleich zu 68 die Seiten gewechselt. Das war ein Umschwung, zu dem Dubček selbst massiv beigetragen hat – der Kern der tschechoslowakischen Tragikomödie. Sogar Mlynar, einer der wichtigsten Mitarbeiter Dubčeks, schrieb schließlich 1982, Dubček habe den Ast abgesägt, auf dem er saß. Er hat nur vergessen hinzuzufügen, daß er es war, der die Säge angesetzt hatte.

Wie reagiert das offizielle Tschechien auf diesen 30. Jahrestag der sowjetischen Invasion?

Mit Verlegenheit. Bislang hat die politische Elite dieses Landes den 21. August nicht wirklich verarbeitet. Die konservative Rechte hat sich nach 1989 um den Glaubenssatz herumgruppiert, daß es 1968 nur um einen innerkommunistischen Machtkampf gegangen sei. Die demokratische Reform des Sozialismus war nach dieser Auffassung ein leerer Wahn.

Das haben die Menschen 1968 sicher anders gesehen.

Klar. Es geht hier um Traumatisierungen. Viele derer, die sich 68 engagierten, hatten danach das Gefühl, der kommunistischen Führung auf den Leim gegangen zu sein. Die Scham darüber ist der Grund der heutigen Abwehrhaltung. Die Kommunisten haben sich nach dem 21. August selbst abgeschrieben. Warum jetzt ein Stück Brot von ihnen nehmen?

Als die zweite Welle der Systemkrise kam, 1989, und mit ihr die zweite Welle der Revolution, hat man nicht mehr mit diesen Leuten, den Reformkommunisten, die sich selbst untreu geworden waren, gerechnet. Und auch die Reformkommunisten bzw. Ex- Reformkommunisten blieben 1989 in ihrer zentristischen Position, statt inmitten der demokratischen Bewegung zu agieren, wie es einige Radikale, zu denen auch ich mich zähle, getan haben. Die Mehrheit rechnete auch 1989 nicht mit der Straße.

Das ist aber noch keine Erklärung für die schroffe Diskriminierung der Ex-Reformkommunisten nach 1989.

Am Anfang des revolutionären Prozesses von 1989/90 hatten die politisch rechten, konservativen Kräfte, die sich später um Václav Klaus gruppierten, überhaupt keine hegemoniale Stellung in der demokratischen Revolution. Erst schrittweise setzte sich die schroff antikommunistische neoliberale Orientierung durch. Klaus ist dabei sehr geschickt vorgegangen, er spaltete das Bürgerforum und gewann anschließend die Wahl. Damit war der Kampf um die geistige Führung entschieden – auch gegen Havel.

Aber trägt Havel – durch seine Passivität – nicht auch Verantwortung dafür, daß Ex-Reformkommunisten fast in die Zone der Kriminalität abgedrängt wurden?

Ich neige eher dazu, ihn zu verteidigen. Allerdings hat er, wie viele Liberale und linksalternativ denkende Leute, nicht rechtzeitig das Ausmaß der Gefahr erkannt, die von Klaus' ultrarestaurativer Politik ausging. Insofern trägt auch er Verantwortung. War die Revolution von 1989 eine demokratische, die sich auf ein breites Bündnis einschließlich linker und rechter Strömungen stützen konnte, oder war sie wesentlich eine antikommunistische? Letztere Lesart hat den Sieg davongetragen.

Kann man sich eine politische Konstellation denken, die einer gerechteren Bewertung der Reformkommunisten von 68 günstig wäre?

Eigentlich böte die Regierung Zeman eine solche Voraussetzung. Aber leider stellt sich das alte Problem in neuer Form. 1968 versäumten es die Reformkommunisten, mit den neu entstandenen demokratischen Kräften ein Bündnis abzuschließen, genauer, dem existierenden Bündnis eine institutionelle Form zu geben. 1998 wäre es möglich gewesen, ein ebenfalls sehr breites Bündnis aller Kräfte zu schließen, die sich von Václav Klaus' Neoliberalismus und demagogischem Antikommunismus distanzieren. Aber Zeman geht den entgegengesetzten Weg. Er stößt die linken Liberalen und Christen ab, um faktisch mit Klaus zusammenzugehen. Fatale Wiederholung von 68! Interview: Christian Semler