Sex, Affären etc.
: Schlampe mit Superwaffe

■ Wahrheitssuche bis unter die Vorhaut des Präsidenten: Wer ist hier eigentlich pervers?

Jetzt, brüllen die europäischen Zeitungen dieser Woche, sei für Bill Clinton die Stunde der Wahrheit gekommen. Es ist genau die abendländische „Wahrheit“, von der Michel Foucault gesprochen hat, nämlich die Vorstellung sexueller Aktivität als innerstem Kern des menschlichen Wesens. Stellen sie sich vor, der Mann hatte Ejakulationen! Und hat es nicht zugegeben! Jetzt ist es raus. Es fehlt nur noch die Analyse der Flecken auf dem Kleid als Beweis für die Flecken auf seinem Gewissen.

Früher hätte man von einem Skandal gesprochen, aber das trifft es nicht. Sagen wir, der Präsident hätte in den Kellern des Weißen Hauses seinen schwarzen Familienprediger ausgepeitscht – das wäre ein Skandal, weil es die Begierden als Raubtiere im Prozeß der Zivilisation bloßstellen würde. Das glaubt so recht keiner mehr. So kommt es zu dem dümmlichen Terminus der „Sex- Affäre“, eine zwanghafte Amalgamierung von Sex und Staatsaffäre.

Von Roland Barthes stammt das Bonmot, in Amerika sei der Sex überall, nur eben nicht im Sex selbst. Jedenfalls macht es immer wieder staunen, welch üppige Phantasmagorien sich um den geschlechtlichen Körper ranken, und zwar in einem Land, in dem die Toilettentüren der Schulen und Bibliotheken so montiert sind, daß dem Auge der Öffentlichkeit/Obrigkeit im Zweifelsfall nichts entgeht.

Was auch immer Clinton im Amtszimmer getrieben hat oder hat treiben lassen – es ist ein ganz gewöhnliches heimliches Verhältnis gewesen, das zunächst auf Nachfrage beide, Mann und Frau, bestritten haben. Wie konnte nun diese einvernehmliche Aktivität – die überhaupt nicht infiziert war von Mißgunst, Niedertracht oder Verrat – zur Staatsaffäre werden?

Die amerikanische Diskussion um die „Wahrheit“ des Sexes treibt schon seit Jahren die kuriosesten Blüten. Während die religiöse Rechte das Haus der Familie wieder vergittern will als Gefängnis der Triebe, stilisierten die Feministinnen – ein fatales Gefecht auf dem Rückzug – die weibliche Sexualität zur Poesie und die männliche zum Instrument eines sozialen Kriegs. Das gemeinsame Stochern im bösen dunkeln hat zu einer Pornographisierung des sozialen Alltags geführt, wenn zum Beispiel Colleges den Liebenden vorschreiben, sich vom Küssen bis zum Reinstecken schrittweise verbal Erlaubnis zu geben, bevor das Gesagte dann vollzogen werden darf.

Aus der akademischen Welt ist der Diskurs der Kontrolle, Vermeidung und Pornographisierung in das gewöhnliche Leben geschwappt. Sonst wäre eine Provinzschreckschraube wie Paula Jones gar nicht auf die Idee gekommen, ihr beiläufiges Treffen mit dem Präsidentenkandidaten Clinton – Jahre her – in eine folgenreiche Geschichte sexueller Belästigung umzudeuten. Die Richterin in Arkansas hat die Chimäre erkannt und die Klage also nicht zugelassen.

In diesem Verfahren hatte Clinton geschworen, kein Verhältnis mit Monica Lewinsky gehabt zu haben. Allein die Tatsache, daß er gefragt wurde, gibt zu denken. Denn so behandelte man früher vergewaltigte Frauen in Prozessen „gegen“ Vergewaltiger: Man schnüffelte im Privatleben, bis die Frauen als Schlampen dastanden. Dieser Zusammenhang – wer promisk ist, ist auch schuldig – wird nun in einer Umdrehung auf Männer als angebliche Täter appliziert.

Die Strafjustiz spielt auf höchster Ebene die zivile Verrechtlichung sexueller Verhältnisse nach. Nur weil die Rollen von Gewalttätern und Charmeuren über Jahre konsequent verwischt worden sind, ist man überhaupt zur Frage des Präsidenten als Weiberheld vorgedrungen. Wenn alle steifen Penisse Amerikas Waffen sind, so die Logik, dann ist der Penis des Präsidenten die Superwaffe.

Aus dieser – eigentlich feministisch geprägten – Vorstellung heraus handelt der Ermittler Kenneth Starr. Deshalb untersucht er die Onaniehilfe im präsidialen Büro mit finanziellen und kriminalistischen Ressourcen, als ginge es um die Verschiebung von Staatsmitteln in den Dschungel. Mindestens.

Bei der Wahrheitssuche angekommen an der Vorhaut des Präsidenten, graut es dem Volk, dem konservativen und dem fortschrittlichen. Über den Wahn der Wahrheitssuche beginnt der gesunde Menschenverstand zu triumphieren, dem langsam dämmert, daß man seinen Ehebruch zu Recht nicht plakatieren läßt.

In seinem leidenschaftlichen Leugnen war Clinton wahrhaftig; jetzt gibt er dem Diskurs nach, weil das Spiel so programmiert ist. Clinton – selbst in der Stunde der Niederlage – taugt als Spiegel seiner Gesellschaft: Nicht der amerikanische Präsident ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Ulf Erdmann Ziegler