Rußlands Großkapital jubelt: Jelzins Neuer ist von gestern

■ Rußlands designierter Premier Tschernomyrdin, ein Mann des Wirtschaftsapparats, vereinbart mit den Duma-Fraktionen eine Koalition und stellt dem Kreml Bedingungen. Jelzin singt sein Loblied und bringt ihn als seinen Nachfolger ins Spiel

Moskau (dpa/rtr/taz) – Um große Worte war Rußlands Präsident Boris Jelzin nicht verlegen. In einer Fernsehansprache versuchte er gestern, seinen Landsleuten die Ernennung von Wiktor Tschernomyrdin zum neuen Premierminister schmackhaft zu machen. „Heute brauchen wir diejenigen, die ,Schwergewichte‘ genannt werden. Ich halte Tschernomyrdins Erfahrung und Gewicht für notwendig. Hinter diesem Vorschlag steht auch eine weitere wichtige Überlegung: die Kontinuität der Macht im Jahre 2000 zu gewährleisten. Die wichtigsten Tugenden von Wiktor Stepanowitsch sind Anständigkeit, Ehrlichkeit und Gründlichkeit. Ich denke, daß diese Qualitäten das entscheidende Argument bei der Präsidentenwahl sein werden“, sagte Jelzin.

Der designierte Regierungschef steckte das Terrain gleich ab. Laut Auskunft des Duma-Präsidenten, des kommmunistischen Abgeordneten Gennadi Selesnjow, hat er sich mit den Parlamentsfraktionen prinzipiell auf die Bildung einer Koalitionsregierung geeinigt. Sie hätten weiter ein Dokument formuliert, in dem Jelzin aufgefordert wird, nicht in die Arbeit der Regierung einzugreifen. Nach russischen Agenturberichten will der Kreml diesem Verlangen nachgeben. Laut Jelzins Sprecher Jastrschembski werde künftig eine Dreierkommission aus Vertretern der Regierung, der kommunistisch beherrschten Duma und des Föderationsrats das Antikrisenprogramm bestimmen und auch Personalfragen erörtern.

Über die von Jelzin hervorgehobenen Qualitäten Tschernomyrdins gehen die Meinungen allerdings auseinander. Fachleute lasten dem alten und neuen Regierungschef die jahrelange Verschleppung von wirtschaftlichen Strukturreformen an. Überdies gilt der ehemalige Chef des Energiekonzerns Gasprom vielen als Vertreter des alten Apparats. Jetzt seien wieder die Verfechter einer staatlich gelenkten Industrie- und Wirtschaftspolitik auf dem Vormarsch, sagte ein Experte.

Nicht zuletzt aufgrund seiner guten Beziehungen zu großen Wirtschaftsunternehmen kann sich Tschernomyrdin zumindest der Unterstützung der russischen Großfinanz sicher sein. „Das Großkapital Rußlands unterstützt die Ernennung unbedingt“, sagte der Finanzmagnat Boris Beresowski. Und die Tageszeitung Wremja bezeichnete Tschernomyrdin als eine ideale Kompromißfigur für einen Großteil der regionalen Eliten und die Duma. Das Unterhaus hat seine für diese Woche geplanten Sondersitzungen abgesagt. Dies verzögert die Verwirklichung von Maßnahmen zur Abwendung der Finanzkrise und deshalb vielleicht auch die Auszahlung von Milliardenkrediten des Westens. Innerhalb einer Woche muß die Duma über den neuen Premier abstimmen.

Der Handel an der Moskauer Aktienbörse wurde gestern wegen Überhitzung für eine halbe Stunde ausgesetzt. Der Index der Börse sei mit mehr als 14,5 Prozent zu schnell gestiegen, meldete die Nachrichtenagentur Interfax. Auslöser für die starken Kursgewinne war der Anstieg der Gasprom-Aktien um etwa 13 Prozent. bo

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