Liebling Kreuzberg

Das Kollektivsubjekt zum Sprechen bringen: Der Berliner Anwalt Christian Ströbele könnte das vielleicht einzige Direktmandat für die Grünen erobern. Ein Porträt  ■ Von Mariam Lau

Die Anwaltskanzlei von Christian Ströbele befindet sich zwar in bester Lage – am schönen Holsteiner Ufer am Berliner Tiergarten –, möchte aber innen nicht viel davon hermachen. Die Sekretärin überschüttet Besucher weder mit Freundlichkeiten noch mit Kaffee, das Mobiliar ist dezidiert unprätentiös. Was so an Lektüre im Wartezimmer herumliegt, scheint einem auch zu bedeuten, daß es Wichtigeres gibt als Komfort und daß es sogar sein könnte, daß Komfort etwas Verdächtiges hat. „Kauft die taz“, ruft ein Flugblatt, „Auf keinen Fall zum Bund“ steht auf einer Broschüre, „Kein Staat mit diesem Staat“ auf einem Buchrücken. Kurt Tucholsky und Wiglaf Droste decken das Humorelement ab, „Das große Vollwertkochbuch“ die anderen Dinge.

Christian Ströbele kandidiert für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Kreuzberg und ist wohl der einzige ihrer Kandidaten mit echten Aussichten auf ein Direktmandat. Zu Kreuzberg, der Berliner Problemzone Nummer eins, fällt ihm als erstes seine Enttäuschung über die vielen Linksalternativen ein, die nun dort wegziehen, weil sie die Straßengangs, das Proletenelend oder die zum Teil groteske Situation an den Schulen nicht mehr ertragen möchten. Der taz – deren Aufsichtsrat Ströbele seit Urzeiten angehört – wirft er vor, nur noch aus ihrer Perspektive über Multikultur zu sprechen. Wenn er hier was zu sagen hätte!

Daß es ein bißchen nach Verratsvorwurf klingt, wenn er von den Wegziehern spricht, liegt auch daran, daß Kreuzberg in den siebziger Jahren vielen seiner Weggenossen einen Ausstieg aus dem utopischen Denken der sechziger Jahre bot: hier und jetzt besser leben, nicht erst nach der Revolution und nicht wie in China und nicht wie in Kuba. Mit einem kleinen Sonnenkollektor auf dem Dach kannst du anfangen!

Oder einem kleinen Anwaltskollektiv. Ströbele kommt nicht aus dem Schwäbischen, sondern ist „eigentlich nirgendwo so recht zu Hause“. Nirgendwo, das war zunächst Halle im Osten, später, direkt nach Kriegsende, zog die Familie den amerikanischen Besatzern in die Arme, nach Marl in Westfalen. Vater war „Chemiker mit Leib und Seele“, Mutter hatte sich an einer Juristenlaufbahn versucht, kam aber nur bis zum Ersten Staatsexamen. Auf Künstlerroman war Ströbeles Kindheit definitiv nicht angelegt: vier Geschwister, übersichtliche Werkssiedlung, katholische Volksschule. Berufswunsch: Papst. Später dann fallengelassen. Was der Katholizismus ihm heute so gibt? „Man versteht Probleme als Sünden, die man dann aber auch wieder los wird.“ Beim Bund fand er sich im Handumdrehen als „Vertrauensmann“ wieder, der Hunderte von Beschwerdebriefen für die Kameraden verfaßte und sie in den Arrestzellen besuchte.

Ausbruch aus der Werkssiedlung nach Berlin, kurz nach dem Mauerbau. So richtig Farbe kommt auch dann nicht in seine Schilderung, wenn er erzählt, er habe sich zunächst jahrelang ganz unpolitisch ins Berliner Nachtleben gestürzt. Kann man sich nicht vorstellen, Ströbele im Nachtleben. Schon eher, daß er damals oft in den Osten fuhr und Familienzusammenführung betrieb, wo er konnte, Papiere hin und her schaffte, Verlobte über die Grenze brachte, bis es eben „kommerziell wurde“, da ist er ausgestiegen. Mit vielen anderen fand er sich 1963 am Schöneberger Rathaus ein, in der Nacht von Kennedys Ermordung, alles aber eben immer noch „unpolitisch“.

Bis dahin fand er auch die Republik immer noch ganz in Ordnung, das änderte sich erst 1967, mit dem Schahbesuch, dem Tod von Benno Ohnesorg, der Hetze gegen die Studenten, und erreichte seinen Tiefpunkt, als er Verteidiger von Andreas Baader war und sich vor drei Beamten nackt ausziehen und untersuchen lassen mußte. Sofort 1967 stellte er seine Referendarsdienste dem Anwaltsbüro Horst Mahler zur Verfügung, damals ein Juristenidol. Tausende von Verfahren wurden über dieses Büro abgewickelt. Plötzlich fand er eine Revolution nötig. Rentenversicherung hat Ströbele damals keine abgeschlossen, weil man danach ohnehin keine mehr brauchen würde.

Irgendwie weiß man genau, wie es weitergeht; irgendwas an Ströbeles Werdegang fügt sich ehern aneinander, wie auf vorbestimmte Weise. Sein Sprechen ist „exemplarisches Sprechen“, er sieht sich als Beispiel. Wenn es wahr ist, daß es zwei Modelle von Revolution gab – das Marxsche „gesetzmäßige“ und das Benjaminsche „melancholische“ –, so war Ströbele mit Sicherheit Anhänger des ersteren, ohne allerdings vergrübelt zu sein. Theoretische Interessen hat er keine. Die großen philosophischen Schlagworte, mit denen die sechziger auf den Existentialismus der fünfziger Jahre antworteten – Totalität statt Kult des einzelnen, Materialität statt „Geist“, Historizität statt Gegenwartsverfallenheit –, leiten sein Denken aber trotzdem. Für marodierende türkische Jugendbanden in Kreuzberg ist die ganze Gesellschaft verantwortlich, und entsprechend soll auf Überfälle nicht mit Zero-Toleranz und polizeilicher Restriktion reagiert werden, sondern mit Gesprächen aller über alle. Für ihn stellt sich das Ganze als Westside-Story dar. Wenn die Jugendlichen bei ihm in der Kanzlei sitzen, dann doch eher als „arme Würstchen“. Solange nicht jeder türkische Jugendliche einen Studienplatz angeboten bekommt, soll man sich über Gewalt nicht wundern. Es ist der Staat, dem die Organisation der Gespräche und die Lösung der Konflikte durch bessere Angebote obliegt.

Der moderne Fundamentalismus, schreibt Stefan Breuer in der neuesten Ausgabe von Sinn und Form, hat den religiösen Fundamentalismus beerbt, indem er dessen Weltablehnung in eine Zeitablehnung umbog. Breuer spielt die Folgen an Jean-Jacques Rousseau durch, wenn man so will dem archetypischen Grünen. Rousseau macht eine Grundverderbtheit seiner Gegenwart aus, die er auf das Privateigentum und die Arbeitsteilung, das Streben nach Ungleichheit, Reichtum und Macht und die Vorstellung zurückführt, Fortschritte der Wissenschaften hätten auch die Tugend gefördert. Das Glück der Menschheit liege in einem undifferenzierteren Zustand, wie man ihn noch an einigen Wilden beobachten könne.

Von Ströbele kann man ganz ähnliche Überlegungen hören. „Unsere Gesellschaft ist mit der Art, wie sie ihre Probleme zu lösen versucht, an eine Grenze gekommen. Sie muß sich von anderen Kulturen befruchten lassen. Beispielsweise glaube ich, daß indianische Gesellschaften uns da wichtige Impulse geben könnten. Sie verlassen sich auf gewachsene Strukturen und kommen oft ohne Häuptling aus!“

Die Trennung von Öffentlich und Privat gilt diesem Denken als soziales Handicap ebenso wie eine ins Kraut schießende Individualisierung. Um zu dem seligeren, undifferenzierten Zustand vorzudringen, bedürfte es nach Rousseau eines Gesetzgebers, der die Aufgabe übernimmt, „gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält“. Pflicht und Neigung klaffen so nicht länger auseinander. Lächelnd berichtet Ströbele – der sich stets dafür eingesetzt hat, daß die taz ein Genossenschaftsbetrieb verbleibt, statt sich von Investoren aus der Misere helfen zu lassen –, wie alte tazler ihm vorgeworfen hätten, er hätte gut reden, er müsse ja schließlich nicht von einem Einheitslohn und in einem Kollektiv leben. Das gibt er gern zu, weist aber darauf hin, daß er selbst sein Leben auch und gern in Selbstausbeutung zugebracht hat. Eine Kollegin berichtet, daß Ströbele den tazlern früher Frühstück vorbeibrachte und daß sie ihren alten Hund, der nicht eben nach Maiglöckchen roch, im Zweifelsfall immer bei Ströbele lassen konnte, wenn sie in Urlaub fuhr.

Wegen seiner klaglos praktizierten Selbstausbeutung kann er sich auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal im Kino war. Wahrscheinlich aber habe er sich dabei geärgert: „Ich kann einfach nicht einsehen, daß man eine halbe Stunde lang Werbung gucken soll!“ Wenn Fernsehen, dann „Liebling Kreuzberg“ oder einen „Ereignisfilm“ (er meint Action, vermeidet aber lieber das amerikanische Wort), keine Kunst. Das Deutsche Historische Museum hat er, mit anderen, in „phantasievollen Aktionen“ bekämpft, auf die er heute noch stolz ist. Früher ist er gern ins Berliner Ensemble gegangen. Heute ärgert er sich über die meisten Bühnen, vor allem die staatlich subventionierten des Westens. „Man müßte denen mal von Staats wegen die Auflage machen, klassisches Repertoire zu spielen, technisch gut gemacht – muß nicht in Jeans sein! –, wo man Lust hat, sich zu identifizieren.“ Die Operngagen erst hält er für völlig obszön; das Geld soll unter die normalen Leute, um sie zu „kultureller Betätigung“ zu animieren. Das permanente Stadtteilfest.

Niemand soll aus der Menge ragen. Alle sind ein Volk. Es besteht, wenn alles gut geht, nicht aus Individuen, die miteinander im Streit liegen, sondern aus einem Kollektivsubjekt. Vielleicht muß man diesem in einem langen und sanften, natürlich auch zähen Erziehungsprozeß ein bißchen auf die Sprünge helfen. In drei Wochen könnte es losgehen.