Der humanitäre Ernstfall

Rassismus durch Inkompetenz: Chester Himes schrieb mit viel Wut – und war dem Literaturbetrieb immer zu heikel. Seine Bücher wurden verfälscht und geglättet. Nun gibt es sie endlich in richtiger Übersetzung  ■ Von Thomas Wörtche

Das Dilemma des schwarzen Schriftstellers liegt in der intellektuellen Begrenztheit seiner Leser“, knallte Chester Himes einst einem eisig schweigenden Publikum in Chicago vor den Latz. Das war 1948, scheint aber auch heute noch zu gelten. Die „Geschichte der Kriminalliteratur“ aus dem renommierten Beck-Verlag wartet mit 24 Zeilen (!) über Himes auf, die samt und sonders faktisch falsch sind. In dem Handbuch „Das Mordsbuch. Alles über Krimis“ (Gerstenberg Verlag) kommt Himes nur vor, weil seine (weißen) amerikanischen Kollegen Block und Charyn ihn nennen. Seine Nachfolger – von Donald Goines, Iceberg Slim, Walter Mosley oder Gar Anthony Haywood bis zu neueren Autoren wie Hugh Holton, Robert O. Greer oder Terris McMahan Grimes – gibt es dort auch nicht. Merke: Auch Inkompetenz kann Rassismus sein, besonders wenn sie mutwillig ist.

Himes' Leben erfüllt fast alle Kriterien der von Hans Mayer beschriebenen „existentiellen Außenseiter“, an denen „Aufklärung“ sich zu beweisen hat und meistens scheitert. 1909 in Jefferson City, Missouri, geboren, wuchs er in einer mittelständischen Familie auf. 1928 fuhr er wegen bewaffneten Raubs zu einer 22jährigen Haftstrafe ins Ohio State Penitentiary ein, mauserte sich dort zum publizierten Schriftsteller (der unter anderem für Esquire Stories schrieb), wurde 1936 vorzeitig entlassen. 1945 landete er mit dem Roman „If He Hollers Let Him Go“ einen veritablen Verkaufserfolg, verscherzte sich mit dem zweiten großen Roman „Lonely Crusade“ die Sympathien aller Pressure Groups (den Weißen war der Roman zu schwarz, den Schwarzen zu weiß, den Juden zu antisemitisch, den Sozialisten zu kritisch), emigrierte 1953 nach Frankreich, wurde dort in Gallimards Série noire zum Kultautor, machte sich 1983 mit dem Fragment „Plan B“, einem deliranten Rassenkriegsszenario, noch mal rundum unbeliebt und starb 1984 in Spanien, wo er zuletzt mit seiner (weißen) Frau Lesley lebte.

Der Erfolg seines „Harlem Cycle“ – insgesamt zehn „Kriminalromane“ – ermöglichte ihm seit den 60er Jahren ein auskömmliches Leben, weil er auch Filmrechte verkaufen konnte. Wenn man ihn überhaupt bewußt zur Kenntnis nahm, dann als Verfasser „harter Krimis“ um zwei ultrabrutale Harlemer Police Detectives: Coffin Ed und Gravedigger Jones, die in neun der zehn Romane auftreten. Erst Ullstein, dann Rowohlt brachten den Harlem-Zyklus (nicht „Plan B“, obwohl das Fragment thematisch zum Projekt gehört) peu à peu und mit erstaunlichen Verkaufszahlen auf den deutschen Markt: in wunderlichen bis putzigen Übersetzungen, die erst seit neuestem (1998!) allmählich durch revidierte Fassungen beim Züricher Unionsverlag ersetzt werden.

Dieses überaus lobenswerte Unternehmen korrespondiert mit einer weltweiten Himes-Renaissance: 1996 gründete sich in Berkeley eine Himes-Gesellschaft. In Schottland bringt Payback Press mustergültige Editionen auf den Markt und hat bei Jim Sallis eine Biographie in Auftrag gegeben. In den USA erschien 1997 eine erste, mit brisanten Materialien gespickte Biographie von Edward Margolies und Michel Fabre; außerdem u.a. die Urfassung von „Yesterday Will Make You Cry“ (die 1952 publizierte Fassung hieß „Cast The First Stone“) und von „The End Of A Primitive“ (1955, in „gereinigter“ Fassung als „The Primitive“), einem Roman über ein schwarz-weißes Liebespaar.

Man kann spekulieren, ob das neue Interesse an Himes der Prominenz von Walter Mosley zu verdanken ist, der nicht müde wird, ihn in Interviews und Statements zu preisen: „Er hat mit soviel Power geschrieben und vor allem mit soviel Wut.“ Und mit so vielen Widersprüchen, Ecken und Haken, möchte man hinzufügen, die man, wie es sich für große Literatur gebührt, nicht glattbügeln kann. „The basic invisible man“ nannte ihn der Filmemacher Melvin Van Peebles: Nicht nur, weil er als schwarzer „Krimi“-Autor hinter seinen „seriösen“ Kollegen Richard Wright oder James Baldwin lange unsichtbar blieb, sondern weil die Person Himes hinter seinen verschiedenen Rollen schwer zu fassen ist.

Seine zweibändige Autobiographie „The Quality of Hurt“ und „My Life in Absurdity“ hilft da auch nicht weiter. Wie in seinen Romanen agiert Himes auch hier je nach Situation sexistisch und antisexistisch, rassistisch und antirassistisch, antisemitisch und nicht antisemitisch, gewaltfeiernd und gewaltverdammend, homophob und nicht homophob. Sein Leben „erklärt“ nur die gröbsten Züge: Daß Himes dem alltäglichen Rassismus in den USA direkt ausgesetzt war, ist klar. Ebenso, daß Rassismus auch die Opfer brutalisiert, daß der amerikanische Kulturbetrieb kein rassismusfreier Raum ist, daß zu Jim Crow auch Crow Jim gehört.

Die verwickelte Textgeschichte von „Yesterday Will Make You Cry“ läßt ahnen, wie schwer ein Zusammenhang von Leben und Werk zu rekonstruieren ist: Das Manuskript von 1936, Himes war gerade aus dem Gefängnis entlassen, erzählt die Geschichte einer homosexuellen Beziehung hinter Gittern. Kein Verlag wollte das Buch. Es erschien erst 1952 als „Cast The First Stone“ – mit Himes' Zustimmung, der in Geldnöten war. Offen Homosexuelles ist da getilgt, der Held kein Schriftsteller mehr, der an der Liebe zu einem Mann Erfüllung findet. Das Original wertet Homosexualität nicht als Perversion, die eben im Knast vorkommt (wie Himes es in der Autobiographie darstellt), sondern als positive Möglichkeit der Persönlichkeitsbildung. Noch komplizierter: Der Held ist ein weißer Mann aus dem Süden.

Verwischt ist also auch, daß Himes so nicht nur seine Knasterfahrungen verarbeitet, sondern auch seine „innere“ Biographie. Denn, Margolies & Fabre versuchen es zu belegen, Himes hatte vermutlich eine durchaus glückliche Beziehung zu einem Schwarzen aus Georgia. Auf diesem Hintergrund sind die Schilderungen der schwarzen Schwulen im Harlem-Zyklus, die man als Muchomacho-Homophobie vom Feinsten abtun möchte, gar nicht mehr so eindeutig. Und Polyvalenz ist in der Tat die große Leistung von Himes als Schriftsteller: Er entwickelte ein absurdes, grotesk-komisches Darstellungsprinzip auf allen Ebenen, vor allem, wenn es um Gewalt geht. Wenn geköpfte, blutsprudelnde Motorradfahrer durch Harlem brettern, wenn Coffin Ed jemanden erschießt, weil der ihn mit Parfüm bespritzt hat, wenn Ed und Gravedigger weißglühend Ratten metzeln, weil sie mit „dem Verbrechen“ nicht mehr fertig werden, dann sind das eben keine lustigen Szenen aus einem schwarzen Viertel, sondern das literarische Pendant zu Himes' Überzeugung, das (schwarze) Leben sei reine „absurdity“. Politische Korrektheiten oder weichgezeichnete Wahrnehmungen haben in einem solchen Konzept keinen Platz. „Harlem. An American Cancer“ nannte er eine Reportage über seinen Schauplatz.

Himes stilisiert sich (in der Autobiographie) oft als tragischen Sexprotz, der weiße Frauen vom weißen Mann erlösen kann, selbst aber nie erlöst wird, und generalisiert das für „den schwarzen Mann“; er ruft, fiktionalisiert, zum möglichst blutigen Rassenkrieg auf, als einzige Möglichkeit, die Wirtschaftsmacht USA zu treffen; er zeichnet Schwule und Lesben als lasterhafte Perverse; die Brutalität der beiden positiven Helden Ed und Jones bleibt ohne jede Milderung. All das läßt sich durch gegenläufige biographische Befunde und literarische Passagen punktuell dementieren, jedoch nie weghebeln. Mit solch rohen Widersprüchen sperrt sich Himes gegen jede Vereinnahmung, Gruppenzugehörigkeit oder Versöhnlichkeit. Und gerade deshalb wurde er zum großen Innovator. Seit Himes wurde Komik (besser: „Karnevalisierung“ im Sinne Michail Bachtins) zu einem der stärksten und produktivsten Verfahren von Kriminalliteratur – siehe Wambaugh, Hiaasen, Marshall, Oster, Taibo und viele große Namen mehr.

Marcel Duhamel hatte den richtigen Instinkt, ihn in der Série noire zu bringen, denn Himes' „absurdity“ basiert auf blutig ernsten Realitäten: „Gewalt ist der Lifestyle der amerikanischen Gesellschaft“, sagt er einmal. Die adäquate Kunstform dafür ist der Kriminalroman („detective story“). So kommt noch eine Absurdität hinzu: Der Harlem-Zyklus entstand zwischen 1956 und 1970; zu einer Zeit, in der die großen „Kanonkonflikte“ (Norbert Elias) um „U“ und „E“ tobten, aus denen Kriminalliteratur schließlich als akzeptierte Erzählform hervorgehen sollte. Daran hatte Chester Himes einen gewaltigen Anteil, auch wenn er vermutlich lieber als Verfasser sozialkritischer Romane über schwarze Arbeiter und die Arbeiterbewegung („Lonely Crusade“) oder „interracial sex“ („Pinktoes“) in die Literaturgeschichte eingegangen wäre.

Auf diesen Gebieten hat er „nur“ thematisch (allerdings einzigartige) Akzente gesetzt. Für den Kriminalroman jedoch hat er literarische Strategien entwickelt, deren Potential noch lange nicht ausgeschöpft ist und die auch auf die nicht-kriminale Literatur zurückwirken. Und er hat Türen für schwarze Kriminalliteratur aufgemacht, auch wenn die Tore erst heute richtig offenstehen. Mosley ist nicht nur sein wichtigster Propagandist, sondern auch sein größter Profiteur. Insofern ist Chester Himes für eine „aufklärerische“ Literaturgeschichte als dreifacher Außenseiter (schwarz, kriminell, literarisch) nicht nur das „Monstrum“, das den „humanitären Ernstfall“ (Hans Mayer) verkörpert: Er ist ein literarischer Glücksfall.

Der Harlem-Zyklus beim Unionsverlag, Zürich (bis jetzt): „Der Traum vom großen Geld“ (Tout pour plaire/The Big Gold Dream, 1959), 216 Seiten, 14,90 DM

„Lauf Mann, lauf!“ (Run man run, 1966), 248 Seiten, 14,90 DM. Deutsch von Michael Görgens.