Wir essen alle seine Stullen, Tag für Tag

Ein Leben ohne Helmut Kohl – eine taz-Serie (Teil 1). Er ist wie eine Mutter zu uns, er ist zum Selbstverständlichen in unserem Alltag geworden. Wenn Kohl nun irgendwann doch noch gehen sollte, dann wird er uns fast alle gekriegt haben  ■ Von Jörg Lau

Auf dem Weg in die Stadt überall Zeichen der Mündigkeit des politischen Verbrauchers: Viele Wahlplakate sind mit der Frage „Bin ich schön?“ überklebt worden. So zeigt man, daß man sich von den Propaganda-Strategen nichts vormachen läßt. Man durchschaut das Spiel. Wahlwerbung ist eben auch Werbung, und wer in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, hat sozusagen von Kindesbeinen an eine Immuntherapie gegen die Warenästhetik mitmachen müssen – vor dem Fernseher, im Kino, beim Zeitschriftenlesen.

Erst wurde Werbung der Manipulation verdächtigt. Dann wurden ihre Verführungsstrategien sozialwissenschaftlich durchleuchtet. Dadurch aber wurde sie nicht sinnlos, wie die Kritiker gehofft hatten. Werbung wurde im Gegenteil als durchschaute genießbar („Cannes- Rolle“), um schließlich als augenzwinkernde Meta-Werbung vom Typ Lucky Strike den aufgeklärten Konsumenten bei seinem Stolz zu packen: Ich weiß, daß ihr wißt, daß ich weiß, daß ihr wißt, daß man mir keinen blauen Dunst vormachen kann.

Wahlwerbung kann nun aber nie so sophisticated sein, wie die gewöhnliche Werbung heute sein muß, um sich nicht bei fortgeschrittenen Zielgruppen zu blamieren. Wahlwerbung ist eine Oase der Naivität in einer sonst durchweg selbstreflexiven Welt. Sie wird freilich von denselben Profis gemacht, die uns sonst jene superironischen Inszenierungen der banalsten Gegenstände präsentieren. Dieselben Kommunikationsingenieure, die sich sonst damit beschäftigen, geheimnislose Dinge mit einer Aura des Magischen, Numinosen, Nicht- identischen zu versehen, sind nun vor die Aufgabe gestellt, komplexe Themen und Charaktere als eindeutige, identifizierbare, verläßliche Objekte darzustellen, die gerade deshalb begehrenswert sind, weil sie nicht schillern. Was die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens ihrer paradoxen Aufgabe noch erhöht, ist die Tatsache, daß die Zielgruppe auch dies schon weiß.

Man kann sich derzeit auf den Berliner Straßen davon überzeugen: Kaum ein Wahlplakat ist ohne Beschriftung geblieben. Die Behauptung des Titelverteidigers, er sei „Weltklasse für Deutschland“ findet sich ergänzt um den erhellenden Satz: „Darum studieren meine Kinder in den USA.“ Und die Ankündigung des Herausforderers, er „werde nicht alles anders, aber vieles besser machen“, ist um den präzisierenden Zusatz erweitert worden „...als in Niedersachsen?“

Es gibt da unter den zahlreichen Übermalungen eine, die bei mir zunächst ganz unmerklich eine nachhaltige Wirkung entfaltet hat. Sie macht ganz nebenbei die ikonographische Traditionslinie des Plakats kenntlich. Kohl zeigt auf dem Weltklasse-Plakat ja bekanntlich mit der Hand auf den Betrachter. Das ist die Uncle-Sam-Geste von den alten Werbeplakaten der US-Armee: „I want you“. Jemand hat also auf dieses Plakat geschrieben: „Ich kriege euch alle.“

Je öfter ich an dem Plakat vorbeikomme, um so zutreffender erscheint mir der Satz: Wenn Kohl nun irgendwann doch noch (bitte, bitte!) gehen sollte, dann wird er uns fast alle gekriegt haben. Mich hat er am Ende mit dem Holocaust-Mahnmal gekriegt. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit Helmut Kohl (und dann auch noch gegen eine Menge Leute, die mir sonst ziemlich sympathisch sind) in einer zentralen Frage der politischen Symbolik einig sein würde. Wer hätte das gedacht! Er löst ja spontan immer noch den gleichen Widerwillen aus wie damals vor all den Jahren: Allein schon dieses stete Beleidigt- und Gekränktsein (warum eigentlich?), von dem jederzeit in den Modus einer höhnischen Überlegenheit (woher bloß?) umgeschaltet werden kann.

Und dann ist da natürlich „Kohls jeder geistigen Wahrnehmung widersprechende Körperlichkeit“, die niemand treffender charakterisiert hat als sein letzter unversöhnlicher Feind, der Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer: „Die physische und stilistische Erscheinung des seit fünfzehn Jahren amtierenden Kanzlers ist so sehr zum Selbstverständlichen in unser aller Alltag geworden, daß von ihr als Provokation zu reden fast schon wieder geschmacklos erscheint. Kohls Körper ist der Körper der Bundesrepublik. Statt jenes früheren biderbes Lächelns, das seinem psychischen Ausdruck nach als ein Grinsen aufgefaßt werden mußte, ein Grinsen zwischen Unsicherheit und Schadenfreude, ist nun Unbeweglichkeit der vorherrschende Ausdruck. Wenn man nicht die Riesensilhouette der Mutter erkennt, die in der Küche unentwegt für die Kinder vom großen Laibe Brotstücke abschneidet, immer dasselbe Brot, Tag für Tag, seit Jahren.“ Die Matriarchatsforschung sollte sich dieser Beobachtung annehmen.

Kohls Physis, so Bohrer, sei aus dem Status des rein Physischen herausgetreten und habe „eine symbolische Qualität angenommen, die – anders als die Straußsche – nicht mehr bloß Vorschießen der reinen Physis über den Geist, sondern eine Art von Metageist selbst darstellt: den Geist der Geistlosigkeit“. Bohrer verfolgt mit diesen Spekulationen ad hominem nicht die Absicht, den Geschilderten zu beleidigen (was ja auch sinnlos wäre, denn er hört erstens nicht zu und ist zweitens immer schon beleidigt). Es geht vielmehr um das Verhältnis der Intellektuellen zu Kohl: „Hier fällt das Kohlsche Prinzip der Einfallslosigkeit mit dem der bundesrepublikanischen Politikängstlichkeit zusammen. Das ist der geheime Grund, warum sich die meisten Intellektuellen mit Kohl abgefunden haben: Seine Dumpfheit erscheint ihnen als Garant des politisch Ungefährlichen, und das ist ihnen, die ,den Deutschen‘ nicht trauen, das Wichtigste.“

Diese Diagnose stimmt, scheint mir, sogar noch für viele, die sich strengstens dagegen verwehren würden, ins Kohlsche Lager gerechnet zu werden. Sie gilt sogar für viele, die sich selbst als Linke oder gar Linksradikale verstehen. Auch sie essen seine Stullen, Tag für Tag. Ein großer Anteil der Häme, die Schröder abbekommt, läßt sich nur aus dem klammheimlichen, vielleicht sogar unbewußten Einverständnis mit dem Mythos der Kohlschen Harmlosigkeit verstehen. Man kann überall, wo Intellektuelle über die Wahl plaudern und munter von der Notwendigkeit großer Veränderungen reden, den Wunsch spüren, dies eine jedenfalls möge sich nicht ändern: Man möchte am liebsten weiterhin gemütlich im Schatten des Körpers des Kanzlers ausharren – und dabei zugleich über seine Behäbigkeit spotten.

Mit Schröder endet dieses Körperschema der deutschen Politik, und damit endet mehr als dies. Der Herausforderer ist schon physisch ungeeignet, was begreiflicherweise Irritationen auslöst. (Sie äußert sich in pseudokritischen Kommentaren über sein „glattes Lächeln“ und sexualneidischen Bemerkungen, er sei ein „Frauentyp“.) Niemand könnte sich hinter Schröder verstecken, und sein Körper lädt auch nicht zum Spott ein. (Übrigens gilt das gleiche für Schäuble, und zwar sogar noch verschärft, des Rollstuhls wegen.) Etwas geht also in jedem Fall zu Ende: Mit dem Körper des Kanzlers wird der Körper der Bundesrepublik sich verändern.

Kohl hat der FAZ eine Geschichte erzählt, die für ihn werben soll, die aber die Unheimlichkeit seiner matriarchalischen Herrschaft nur auf den Punkt bringt. Er gehe häufig in die Neue Wache zu der Kollwitz-Pieta, um zu sehen, wie das Volk dort trauert: „Ich bin ziemlich häufig dort, gehe ganz allein dorthin und stelle mich einfach hinten in eine Ecke, wo man gar nicht bemerkt wird.“ Die Geschichte folgt dem uralten Märchenschema des unentdeckt unter uns weilenden Herrschers, der aus erster Hand erfahren will, was sein Volk denkt. Aber mit dem riesigen Kohl in der Nische ist dies das Setting für eine Horrorszene, wie aus „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. Man stelle sich vor: Man steht vor der gruseligen, aufgeblähten Mutter der Kollwitz, die ihren toten Sohn ja nicht einfach in Trauer hält, sondern zu verschlingen, ihn wieder in sich zurückzunehmen droht – da tritt einem aus dem Dunkel der mütterliche Kanzler entgegen und sagt, bieder grinsend, eine Hand vorgestreckt: „Weltklasse für Deutschland. Ich kriege euch alle.“ Wer würde da nicht panisch das Offene suchen?

Jörg Lau ist Mitarbeiter der „Zeit“