Wie entsteht das Bild vom kriminellen Ausländer?

■ Rainer Geißler forscht zu sozialer Ungleichheit. Er untersuchte den Umgang mit ethnischen Minderheiten in der vielzitierten Kriminalstatistik

taz: Herr Geißler, zunehmend wird behauptet, ausländische Jugendliche seien krimineller als Deutsche. Stimmt das?

Rainer Geißler: Nein. Zunächst einmal: Ausländische Jugendliche mit einem vergleichbaren Sozialprofil sind weniger kriminell als Deutsche. Das heißt, die Kriminalität bei ethnischen Minderheiten ist niedriger als bei deutschen Gruppen mit ähnlichem Sozialprofil. Schon Ende der achtziger Jahre konnten wir dieses Ergebnis anhand der Studie zur „Kriminalität und Kriminalisierung junger Ausländer“ belegen. Und dies gilt heute noch. Leider differenziert auch die Presse nicht bei den Daten der jährlichen Kriminalstatistik.

Die jährliche „Polizeiliche Kriminalstatistik“ (PKS) ist lediglich in „Deutsche“ und „Nicht-Deutsche“ untergliedert. Kann man diese allgemeinen Zahlen so umrechnen, daß Alter, Geschlecht und Sozialstruktur erfaßt sind?

Ich habe die Statistik untersucht. Das Ergebnis zeigt, daß nicht nach ethnischen Minderheiten differenziert wird. Die Statistik zeigt aber, daß diese erheblich gesetzestreuer sind. In der Kriminalstatistik werden alle außer den Deutschen als „Nicht-Deutsche“ erfaßt. Egal, ob es sich um Touristen, Grenzgänger, Asylbewerber, Illegale, Staatenlose oder Aussiedler handelt. Und in der Presse tauchen sie dann als Ausländer auf. Diese unsinnige Sammelsuriumkategorie „Nicht-Deutsche“ habe ich entsprechend der Situation der ethnischen Minderheiten untergliedert und gezeigt, daß unterschiedliche Gruppen nicht miteinander verglichen werden können. Was hat ein Krimineller aus Dänemark, der zum Autoknacken nach Deutschland kommt, mit dem türkischen Arbeitnehmer hier zu tun?

Was ist das Gemeinsame?

Das einzig Gemeinsame ist, daß sie beide Nicht-Deutsche sind. Auch werden in der PKS diejenigen registriert, die einfach nur gegen die Einreisebestimmungen verstoßen haben und sich somit „illegal“ in Deutschland aufhalten.

Hat sich daran etwas geändert?

Ja, ein kleines bißchen. Ich habe 1990 in einem Brief an das Bundeskriminalamt Differenzierung gefordert. Seitdem taucht in der PKS ein Vorspann auf, der darauf verweist, daß die Zahlen der „nicht-deutschen“ Gruppierung nicht mit denen der Wohnbevölkerung verglichen werden dürfen. Selbst der nochamtierende Bundesinnenminister Kanther, der die PKS immer vorstellt hat, wies neuerdings darauf hin, daß „die hier länger wohnende ausländische Wohnbevölkerung kriminell nicht besonders auffällig ist“.

Wie entsteht eine Tatverdächtigenstatistik?

Im Grunde genommen ist diese Statistik ein Rechenschaftsbericht der Polizei. Hier melden sie an die Landeskriminalämter die vermuteten Straftaten weiter, egal ob etwas vorgefallen ist oder nicht. Die Landeskriminalämter sammeln dies und leiten es an das Bundeskriminalamt weiter. Und dies stellt dann die Tatverdächtigenstatistik dar.

Es wird also nicht zwischen Tatverdächtigen und Tätern unterschieden?

Leider nicht. Ich bin daher sehr kritisch dieser Statistik gegenüber eingestellt.

Was besagt eigentlich die sogenannte Ausländerkriminalstatistik?

Im Grunde genommen hat das Ganze einen falschen Titel. Auch im Sprachgebrauch. In der Presse taucht immer „Kriminalstatistik“ auf, aber hier wird nicht die Kriminalität registriert, sondern die Tatverdächtigen. Es müßte eigentlich „die Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen“ heißen, und nicht der Kriminalität. Ob die Tat wirklich kriminell ist, können nur Gerichte feststellen, nicht aber Statistiken. Und von denen, die in dieser Statistik auftauchen, wird nur ein Drittel rechtskräftig verurteilt, und zwei Drittel stellen einen großen Teil an falschem Tatverdacht dar.

Wie beurteilen Sie den Fall „Mehmet“?

Ich stelle mir vor, er wäre nicht in Deutschland geboren, sondern in Kanada oder Frankreich. Dann hieße er nicht Mehmet, sondern Bill oder François. Dort wäre er kein Türke, sondern ein Kanadier oder Franzose. Dort würde niemand auf die Idee kommen, ihn samt Eltern ausweisen zu wollen. Ich halte es für absurd, die Verantwortung für diese schiefgelaufene Sozialisation einer Gesellschaft, sprich der Türkei, aufzubürden, die mit diesem Fall nichts zu tun hat. Mehmet hat keine türkischen, sondern deutsche Schulen besucht, und er ist nicht in türkischer, sondern in deutscher Umgebung aufgewachsen. Warum sollte die Türkei die Folgen dieses Unglücks tragen und nicht die Gesellschaft, in der es entstanden ist? Deutschland ist leider geschichtsblind. Im Prinzip ist es wieder einmal die Ausgrenzungsmentalität, die dahintersteckt. Es ist der Mangel an Denken in Zusammenhängen und wie man richtig und zivilisiert mit Minderheiten umgeht, die schon lange in Deutschland leben. Interview: Semiran Kaya

Professor Dr. Rainer Geißler ist Soziologe an der Universität Siegen