Für eine neue Wende im Osten!

Die Wahlen sind entschieden, die Probleme aber bleiben, gerade im Osten der Republik. Dort fehlt es an Arbeitsplätzen, einem selbsttragenden Wirtschaftswachstum, einem stabilen Mittelstand, an einer günstigen Finanzausstattung der Kommunen – vor allem fehlt es am Glauben, daß der Westen die Ostdeutschen als gleichberechtigt akzeptieren will. Ein Vorschlag zur Güte  ■ von Rolf Reißig

So, die Wahlen sind geschafft. Wie wäre es jetzt mit einer Bilanz hinsichtlich des „Aufbau Ost“? Dann nämlich wird die neue Regierung erkennen, daß ein einfaches „Weiter so“ kontraproduktiv wäre. Unbestritten ist, daß vieles seit 1990 auf den Weg gebracht wurde. Die staatliche Einheit ist ohne große Turbulenzen und Konflikte vollzogen. Der Systemwechsel hat Chancen und Entwicklungsperspektiven geschaffen, die man im Osten sehr wohl zu schätzen weiß. So die neuen Konsum- und Reisemöglichkeiten, so die gewonnenen individuellen Freiheits- und Menschenrechte, so die erweiterten sozialen und politischen Handlungsräume.

Ein Vergleich mit anderen postsozialistischen Gesellschaften macht die Fortschritte noch deutlicher. Trotzdem plädierte eine große Mehrheit der Ostdeutschen bei den Wahlen für einen Wechsel – für eine Politik, die bei den wirtschaftlichen und sozialen Poblemen gerechtere Lösungen anstrebt. In diesem Wunsch drückt sich auch das soziale Bedürfnis der Ostdeutschen nach „Anerkennung“ aus.

Mit einem Regierungswechsel allein ist es aber nicht getan. Erforderlich ist auch ein gesellschaftlicher Wandel, ein, freilich abgewogenes, Umsteuern. Denn es waren die rigide Übertragung des neoliberalkonservativen Ordnungsmodells der alten Bundesrepublik und die frühzeitigen Richtungsentscheidungen der Vereinigung – Währungsunion, Eigentumsrestitution, radikaler Elitenaustausch, betriebswirtschaftlich ausgerichtete Privatisierungsstrategie der Treuhand, Verzicht auf eine gemeinsame Verfassungsdiskussion und einen Volksentscheid –, die kritische Reflexionen ausschlossen.

Die Vorteile des privilegierten deutschen Wendefalls verkehrten sich oft in Nachteile. Die Ursache des Durchwurstelns liegt vor allem in der Furcht der politischen Westelite vor Reformen, sozialen Experimenten, Öffnungen und möglichen Rückwirkungen des Ostens auf den Westen. Zwei Folgen hatte diese phantasielose Politik: Zum einen wurden die über den Erfolg einer Transformation letztlich entscheidenden heimischen Potentiale in Ostdeutschland weitgehend verdrängt und negiert. Zum anderen haben sich historisch gewachsene Ost-West-Abhängigkeiten nicht abgeschwächt, sondern vertieft – was auch negative Auswirkungen auf die alten Bundesländer haben wird.

Etwa die Wirtschaft. Die Ökonomie der DDR stand bekanntlich 1989 vor dem Kollaps. Die dann mit der Vereinigung nicht ökonomisch, sondern politisch motivierte fast vierhundertprozentige Aufwertung der DDR-Mark lösten eine Strukturkrise aus, in deren Folge es zu heftigen Verwerfungen kam: Deindustrialisierung, Zerbrechen der sozialen Netze, Entwertung der persönlichen Qualifikation, Niedergang der industriellen Forschung, Verlust von vier Millionen Arbeitsplätzen, dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit.

Eine vorausschauende Industrie-, Struktur-, Regionalpolitik blieb nach der Wende aus. Motto: Der Markt wird es schon richten. Das Hauptproblem besteht heute darin, daß ein selbsttragender Wirtschaftsaufschwung trotz des immensen Finanztransfers von West nach Ost noch nicht in Sicht ist. Optimistische Prognosen gehen von bis zu 25 Jahren aus, ehe die ostdeutsche Ökonomie mit der Westdeutschlands konkurrieren kann.

Woran das liegt, ist offensichtlich: Die innovativen Grundlagen für einen solchen nicht nur subventionierten Aufschwung sind zu schwach – trotz einer größeren Zahl neuer Selbständiger und trotz Jen- Optik, ADMD und Siemens in Dresden, Sachsenring Automobiltechnik in Zwickau oder EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt. Das Gefälle ist gewaltig zwischen Vorzeigebetrieben und der Mehrzahl der ums Überleben kämpfenden kleinen und mittleren Unternehmen, zwischen Wachstums- und Problemregionen, in denen jeder vierte ohne Arbeit ist, zwischen hochqualifizierten Fachleuten und einem Mangel an Fachpersonal in einigen High-Tech- Bereichen, zwischen wirtschaftlichen Siegern und Verlierern der Einheit.

Zweitens die Wirksamkeit der politisch-administrativen Institutionen. Diese sind inzwischen erfolgreich von West nach Ost transferiert und funktionieren in technischer Hinsicht überwiegend gut. Doch sie sind nur schwach in der Gesellschaft Ostdeutschlands verankert, schweben oft noch wie Hohlkörper über den ostdeutschen Lebenswelten. Nur rund dreißig Prozent der Menschen im Osten haben eine gute Meinung von Demokratie und Marktwirtschaft. Wie immer man das interpretiert, die soziokulturellen Integrationsleistungen des Institutionengefüges sind in Ostdeutschland gering.

Auf die Phänomene sozialer Spaltung der Gesellschaft, auf Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Rechtsradikalismus sind sie nicht oder nur unzureichend vorbereitet. Und die Herausbildung einer zivilen Gesellschaft stagniert. Politische Struktur und politische Kultur stehen so in Ostdeutschland in einem aggressiven Spannungsverhältnis. Die neue Ordnung bleibt schon deshalb fragil.

Drittens zum Stand der inneren Einheit. Die gesamtdeutsche Bundesrepublik ist staatlich-politisch fest vereint – was niemand in Frage stellt. Dennoch ist die neue Bundesrepublik acht Jahre nach der Vereinigung strukturell, gesellschaftlich und mental auf neue Weise gespalten. Ein Staat, aber zwei Gesellschaften, zwei Wir- Gruppen, zwei kollektive Identitäten. Dies steht natürlich im Zusammenhang mit historischen Entwicklungen und mit der vierzigjährigen Nachkriegsgeschichte beider Staaten und Bevölkerungsgruppen.

Aber immer deutlicher wird, daß wir es hier auch mit den Folgen einer spezifischen Vereinigungspolitik seit 1990 zu tun haben. Dabei ist diese Ost- West-Spaltung nur eine, wenngleich heute noch wesentliche Spaltung der Bundesrepublik. Für den Bruch im Land gibt es mehrere Ursachen: So gingen zum Beispiel 95 Prozent des Firmenvermögens, welches von der Treuhand privatisiert wurde, von Ost nach West, das heißt in die Hände westdeutscher Kapitaleigner. Ähnliche Asymmetrien zeigen sich bei der Verteilung von Immobilien, Vermögen, Besitzständen.

Unterrepräsentiert ist die ostdeutsche Bevölkerung aber auch hinsichtlich ihrer Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Es ist nun einmal ein westlich dominiertes Parteien-, Verbände-, Wissenschafts-, Forschungs-, Medien- und Sportsystem. Der Anteil der Ostdeutschen an der bundesdeutschen Elite liegt in der Wirtschaft und beim Militär bei null, in der Verwaltung und der Justiz bei drei, im Wissenschaftsbereich bei sieben Prozent. Und: Die Zugänge zu den wichtigen Entscheidungsprozessen sind gegenwärtig für die Bürger im Osten der Republik überhaupt mehr blockiert denn geöffnet.

Woran das auch liegt? Im Westen sah man den Osten vor allem als nachhinkendes Sondergebiet. Man empfand sich bereits als das komplette Deutschland. Das Volk der DDR, das das SED-Regime stürzte und die Einheit ermöglichte, schien auf einmal nicht mehr gebraucht. Mental findet das seinen Ausdruck auch darin, daß sich vier von fünf Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen.

Umfragen bezeugen, daß man sich heute zuerst als ostdeutsch und erst danach als deutsch betrachtet. Vor der Wende war dies umgekehrt. Diese Spaltungen zwischen beiden Teilgesellschaften werden heute nicht mehr als Konsequenz des Systemwechsels interpretiert.

Die Herausforderungen des weiteren „Aufbau Ost“ und der „Vollendung der inneren Einheit“ sind deshalb enorm. Sie zu bewerkstelligen verlangt mehr Kraftanstrengung und mehr Zeit als je angenommen. Vor allem aber bedarf es neuer Ideen und Konzepte, um eine zweite, originäre und nicht mehr auf alte Vorbilder zurückgreifende Strategie des Zusammenwachsens in Gang zu setzen. Statt Aufbau Ost als blindem Nachbau des Modells West muß es jetzt Umbau in Ost und West heißen. Am Ende des Systemwechsels stehen wir am Anfang der Transformation.

Wenn ich das Wahlergebnis richtig deute, gibt es trotz der vielfältigen Widersprüche im Osten der Repubik durchaus eine Mehrheit, die sich für diese Veränderungen ausspricht. Doch sollte ein Wandel nach ostdeutschem Verständnis Stabilität und Kontinuität nicht gefährden. Die Bereitschaft zu Veränderungen hängt im Osten nicht zuletzt davon ab, daß zumindest der Einstieg in diese Wende nachvollziehbar ist und sie als gerecht empfunden wird. Glaubwürdigere Politik und endlich ein wahrhaftiger Dialog zwischen Politik, Parteien und Bürgern sind deshalb im Osten besonders gefragt. Anders läßt sich auch der nötige gesellschaftliche Konsens nicht herstellen.

Drei Aufgaben wären daher jetzt nach der Bundestagswahl zu bewältigen:

Erstens bedarf es einer selbsttragenden und zukunftsfähigen Wirtschaftsentwicklung in den neuen Ländern. Die Strategie kann nicht mehr allein darauf zielen, international mobiles Kapital nach Ostdeutschland zu locken. Die Frage muß nunmehr lauten: Wie können die im Osten vorhandenen produktiven und innovativen Ressourcen und Kompetenzen besser mobilisiert werden? Diese Potentiale – das Humankapital, das hohe Qualifikationsniveau der Menschen, ihre industriegesellschaftlichen Traditionen und neuen sozialen Erfahrungen, ihre Leistungsbreitschaft und soziale Mobilität, aber auch die neu aufgebaute moderne Infrastruktur – sie gilt es zu nutzen, zu stärken und miteinander zu kombinieren.

Dabei gilt: Viele für den Osten notwendigen neuen Lösungen könnten auch für den Westen der Republik nachahmenswert werden. Für längere Zeit braucht die ostdeutsche Wirtschaft auch weiterhin Transferleistungen. Statt eines Gießkannenprinzips gilt es aber nun, diese viel differenzierter und gezielter einzusetzen. So sollten beispielsweise die Bundesländer selbst entscheiden, wo und wie die Fördergelder sinnvoll eingesetzt werden können. Statt der bisherigen Förderung von Immobilienbauten und Prestigeobjekten als steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten müssen bei der Forschung und beim Mittelstand die Prioritäten neu gesetzt werden.

Eine solch veränderte Wirtschaftsförderung muß sich daran orientieren, öffentliche Aufträge an Ostfirmen zu vergeben; Investoren, die Arbeitsplätze schaffen, sollten gewonnen werden; Risikokapital für die kleinen und mittleren Unternehmen müßte bereitgestellt werden. Das heißt aber auch, eine übermäßige Verrechtlichung und Bürokratisierung gerade bei der Wirtschaftsförderung zu stoppen. Denn diese Rahmenbedingungen haben nur Sinn, wenn sie die Eigeninitiative und –verantwortung der Unternehmen, der Verwaltungen, der wirtschaftspolitischen Akteure, der Bürger stärken.

Zweitens gilt es, neue regional geprägte Entwicklungspfade aufzuspüren. In einigen neuen Bundesländern wie Thüringen, Brandenburg und Sachsen gibt es hier bereits erste positive Erfahrungen. Diese regionalen Chancen sollten den spezifischen Stärken und Profilen der Regionen entsprechen, neue positive Leitbilder initiieren, auf regionale Wirtschaftskreisläufe und neue Akteurskoalitionen quer zu den Institutionen und Organisationen setzen. Das erfordert auch eine Dezentralisierung und Föderalisierung der politischen Aushandlungssysteme.

Drittens gewinnt in den neuen Bundesländern eine positive Identitäts- und Partizipationspolitik einen besonderen Stellenwert. Das heißt Stärkung des Selbstwertgefühls der Menschen und ihre Einbeziehung durch neue Chancen von Mitsprache und Mitgestaltung vor Ort, im Unternehmen, in der Gemeinde, der Region, im Land. Es gilt die stark verbreiteten Ohnmachtsgefühle und autoritären Denkmuster zurückzudrängen, Selbstbewußtsein, individuelles Engagement zu stärken und Hoffnung zu verbreiten. Dazu gehört als Voraussetzung die Akzeptanz der Ostdeutschen als Ostdeutsche und die Nutzung ihrer einmaligen Transformationsleistungen und Erfahrungen.

An der Spitze der gesellschaftlichen Werteorientierung stehen in Ostdeutschland Arbeit, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, gesellschaftliche Einbettung des Marktes durch staatliche Regulierung. Obwohl der ostdeutsche Wertehaushalt im Vergleich zu dem mehr individualistischen und marktradikaleren des westdeutschen eher traditionaler geprägt ist, sind in ihm zugleich wichtige Modernisierungschancen erhalten.

Die viel diskutierte Ostidentität wirkt dort tatsächlich blockierend, wo sie allein dem Motto „Wir versus die“ folgt und damit auf Abschottung, Ostalgie und eine unkritische Sicht auf die eigene Gruppe zielt. Sie ist aber dort eine wichtige Brücke zu Innovation und Modernisierung, wo sie als positiver Rückgriff zur gezielten Aufwertung der eigenen biographischen Ressourcen, Leistungen und Vorzüge auftritt, um eine aktive Lebensposition zurückzugewinnen oder zu behaupten.

Vielleicht noch ein anderes Beispiel. Unter dem Mantel eines einheitlichen gesamtdeutschen Parteiensystems unterscheiden sich die Parteien der neuen Länder von denen in den alten beträchtlich. Bislang werden eher die Defizite thematisiert: schwache Mitgliederbasis, fehlende Milieubindung, geringere gesellschaftliche Verankerung. Vielleicht aber sind künftig Parteien als politische Dienstleistungsunternehmen zu begreifen, die sich nicht zuerst der Klientelpolitik verpflichtet fühlen, sich vielmehr zur Gesellschaft hin breit öffnen, flexibel reagieren und agieren, Vorschläge zur Lösung des zentralen Problems von nachhaltiger Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft unterbreiten. Sie verkörpern Zukunftsmodelle für die Strukturen und Politiken des altbundesdeutschen Parteiensystems.

Noch fehlt es den Parteien im Osten der Republik an vielen dieser Voraussetzungen, doch auch hier sehe ich eine ganze Reihe günstigere Möglichkeiten als gemeinhin vermutet wird. „Pfadfinder der deutschen Einheit“ (Christoph Dieckmann), die im Westen zunächst eher auf Ablehnung stoßen, wie Reinhard Höppner, Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, bieten hier durchaus neue Überlegungen an.

Bei der notwendigen strategischen Umorientierung des „Projekts Ostdeutschland“ geht es nicht um einen ostdeutschen Sonderweg. Dies spielt nur in den Köpfen weniger Intellektueller eine Rolle. Die besonders zugespitzten Konflikte des Ostens sind inzwischen zu einem großen Teil auch Ausdruck und Folge der Problemlagen der Bundesrepublik insgesamt. Ost und West sind deshalb auf neue Art zusammenzudenken und zusammenzuführen. Vielleicht geht es gar, wie unlängst zu lesen war, um die Neuauflage eines deutsch- deutschen Erfolgskonzepts der Vergangenheit: Wandel durch Annäherung.

Rolf Reißig, 57 Jahre, Historiker und Philosoph, gründete 1990 das Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS), Transformationsprozesse, vor allem die Folgen der Wende, untersucht.