Das jähe Ende einer friedlichen Revolte

Heute vor dreißig Jahren schoß Mexikos Militär eine Versammlung unbewaffnet protestierender Studenten zusammen. Das Massaker von Tlatelolco markierte eine Zäsur in der mexikanischen Geschichte  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

An kaum einem anderen Ort der mexikanischen Hauptstadt ist Geschichte so greifbar wie auf dem Platz der drei Kulturen, im Volksmund besser unter seinem altmexikanischen Namen „Tlatelolco“ bekannt. Eine Steintafel erinnert an jenen Augusttag im Jahre 1521, an dem Tlatelolco als letzte aztekische Festung „heroisch“ vom Krieger Cuauhtémoc verteidigt wurde und dennoch in die Hände der Eroberer fiel.

Wenige Meter weiter ragt eine zweite Gedenktafel gen Himmel, die an ein nicht minder traumatisches Datum erinnert: den 2.Oktober 1968. An diesem Tag eröffneten Militärs hier das Feuer auf eine Versammlung unbewaffneter Studenten. Wie viele den Maschinengewehrsalven zum Opfer gefallen sind, ist bis heute unbekannt.

1968, das war in Mexiko ein sehr kurzer Sommer der Rebellion. Was Ende Juli noch mit universitären Splittergruppen und Kuba-Euphorie begann, war mit dem Antiimperialismus der revolutionären Staatspartei zunächst durchaus vereinbar. Daß die bewegten StudentInnen sich schließlich gegen die eigene Staatsmacht wandten, ist vor allem der Panikreaktion des Establishments zu verdanken: Angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele galt jede Unruhe auf den Straßen als Störfaktor, die Demonstrierenden wurden mit nie gesehener Härte attackiert. So schwoll die Revolte binnen weniger Wochen zu einer Massenbewegung an, die weit über studentische Kreise hinausstrahlte.

Dabei ging es bei den mexikanischen 68ern braver zu als anderswo: Von gewaltsamem Umsturz war erst gar keine Rede, als radikalste Forderung wurde der „öffentliche Dialog“ mit dem Staatschef verlangt, und im Grunde habe man „nicht die geringste Absicht gehabt, die Olympiade zu sabotieren“, wie sich der linke Historiker Adolfo Gilly augenzwinkernd erinnert. Auch die orgiastische Hippie-Kultur hielt sich in Grenzen, die Frauen rebellierten noch nicht, in den wenigen Kommunen versuchten sich meist brav verheiratete Pärchen in arbeitsteiliger Kindererziehung. Und schließlich war einer der Helden der Bewegung der Rektor der Nationaluniversität höchstpersönlich, Javier Barrios Sierra. Als Ende September die Armeepanzer auf den bestreikten Uni-Campus rollten, ließ er aus Protest die Fahne auf Halbmast setzen. Mit welcher Wucht die Repression dem Spuk schließlich ein Ende bereiten sollte, hatte niemand vorausgesehen.

Was genau am Nachmittag des 2. Oktober geschah, konnte bis heute nicht exakt rekonstruiert worden. Nur soviel ist klar:Als das friedliche Meeting gerade aufgelöst wurde, erleuchtete in der Abenddämmerung plötzlich bengalisches Feuer den Himmel. Kurz darauf Schüsse von überallher, Schreie, der Platz wurde abgeriegelt, alles rannte in Panik. Militärs durchkämmten jedes Stockwerk der umliegenden Hochhäuser auf der Suche nach den Studentenführern, unterstützt von Mitgliedern des paramilitärischen Olympia- Bataillons. Fast zwei Stunden lang prasselt das Gewehrfeuer auf die unbewaffneten Studenten nieder. Auf einer der Etagen hatte sich auch die ausländische Presse postiert. „Das war schlimmer als jedes Bombardement, das ich in Vietnam gesehen habe“, meint später die Kriegsberichterstatterin Oriana Fallaci, die selbst angeschossen wurde, „dort hat es wenigstens immer irgendwelchen Unterschlupf gegeben – auf Tlatelolco nicht.“

700 Menschen wurden in dieser Nacht verletzt, über 1.500 festgenommen – 300 von ihnen verbrachten mehrere Jahre im Gefängnis. Die Toten blieben ein Rätsel. Von 500 oder gar 1.000 war zunächst die Rede. Lange galt die Angabe der britischen Tageszeitung The Guardian, die in der Mordnacht 325 Todesopfer gezählt haben will, als die verläßlichste Zahl – bewiesen ist sie nicht. Auch die Frage nach den Verantwortlichen ist bis dato ungeklärt.

So ist der 2. Oktober 1968 eine Zäsur, die die mexikanische Zeit in ein Vorher und ein Nachher zerschneidet. Aber auch ein Datum, das die Erinnerung an die vorangegangene Lust an der Revolte zu verschütten droht. „Der Stellenwert des Totenkults ist eben verteufelt in diesem Land“, meint der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II. Denn auch in Mexiko hat der 68er Aufbruch über das Massaker hinaus seine Spuren hinterlassen. Zwar war der naiven Radikalität zunächst ein jähes Ende gesetzt. Die Logik des Klandestinen machte sich breit, lange Märsche durch Massenorganisationen – oder eben in die Berge. Aber auch die Universitäten wurden reformiert, unabhängige Gewerkschaften entstanden, die Frauen machten mobil.

Nicht zuletzt ist die 1988 gegründete Partei der Demokratischen Revolution (PRD) als Sammelbecken der linksoppositionellen Kräfte im Land, die seit letztem Jahr die Hauptstadt regiert, ein mehr oder weniger direktes Produkt der Revolte.

Doch mit der Ritualisierung droht auch hier die Einbalsamierung des Gedenkens. Allerorten finden zum 30. Jahrestag aufwendige Veranstaltungen und Filmreihen zum Thema statt, in den großen staatlichen Museen wird „68er Kunst“ gezeigt. Stand bei den Gedenkritualen vor fünf Jahren noch die Wut im Vordergrund, so gehört es heute selbst für Teile des Establishments zum guten Ton, die „Jugendrevolte“ als Stunde Null der Demokratisierung zu deuten.

Dennoch, die Narbe von Tlatelolco ist nicht verheilt. Manche wünschen sich den Blick nach vorne, wollen nicht länger in alten Wunden wühlen. Andere, wie Taibo II, werden zornig, wenn die Rede auf Versöhnung kommt. „Mit Mördern, die gegen Unbewaffnete das Feuer eröffnen, gibt es weder Verhandlung noch Versöhnung. Die Kriegsverbrecher, wenn du mir die Parallele gestattest, kommen nach Nürnberg und sonst nirgendwohin.“ Für den Schießbefehl von Tlatelolco ist bis heute niemand verurteilt worden.