Die verminte Stadt

Voriges Jahr bestimmten die BewohnerInnen von Mexiko- Stadt erstmals selbst, wer ihr Bürgermeister wird. Gewählt wurde Cuauhtémoc Cárdenas, einer der prominentesten Vertreter der linken PRD. Erwartet wurde von ihm eine Revolution der politischen Kultur gegen Filz und Korruption. Die blieb aus, gebacken werden nun kleine Brötchen. Eine Bilanz des Schriftstellers  ■ Paco
Ignacio Taibo II

I

Ich fragte mich vor dem Wahlsieg Cuauhtémoc Cárdenas': Was hab' ich schon für Erfahrung im Verwalten von Städten? Meine Antwort lautet: 1. Jene, die ich mit Computerspielen wie „Simcity“ und „Civilization“ erworben habe. 2. Jene, die ich beim Lesen der Romane von Grossman und Chakowski über Stalingrad während der deutschen Belagerung erlernt habe (Wenn es möglich war, eine Stadt unter diesen Bedingungen zu verwalten...). 3. Jene, die ich mit meiner Generation in der besetzten Universität im Jahr 1968 geteilt habe und mit den aufständischen Massen nach dem Erdbeben in der mexikanischen Hauptstadt. 4. Jene, die ich in zehn Jahren beim Organisieren eines Kulturfestivals in Spanien erlangt habe.

Gestützt auf diese lachhafte und wunderbare, wenn auch wenig nützliche Erfahrung dachte ich in den Monaten von der Wahl bis zur Amtsübernahme, daß es eigentlich nicht so schwierig sein dürfte. Unmöglich war es gewesen, die Wahlen zu gewinnen, gegen die PRI und gegen diesen Eindruck von Unvergänglichkeit, den sie uns Mexikanern in die Köpfe gesetzt hatte. Doch die Wahlen waren gewonnen. Cuauhtémoc Cárdenas und dieses unmögliche Bündnis namens PRD, aus Kräften, die von der Mitte bis zur Linken reichen, hatten das PRI-Monopol auf die größte Stadt der Welt geknackt.

In der langen Pause nach der Feier des Siegs habe ich mich häufig gefragt, was es wohl bedeuten würde, die größte Stadt der Welt zu regieren. Welche eigenartigen Verstrickungen bringt es wohl mit sich, einen bürokratischen Apparat zu lenken, der von machterhaltender Trägheit hervorgebracht wurde? Welchen Problemen, die keine Lösung haben, stehen wir gegenüber? Welche Fallen würden die strebsamen neuen Verwalter wohl erwarten?

Doch in diesen Monaten, die ich mich meiner Vorstellungskraft hingab, konnte ich mir nicht einmal annähernd ausmalen, was diese ersten neunzig Tage demokratischer Regierung dann wirklich waren. Ich war kein Außerirdischer. Tausende Menschen dachten ebenso wie ich, daß in der Hauptstadt nunmehr die Zeit der Wunder angebrochen sei.

Doch die Wunder kamen nicht.

Seien wir gerecht. Es waren keine Wunder möglich. Cárdenas hatte das oft gesagt. Es würde lange dauern, es würde schwierig werden. Und das ist es jetzt auch.

Langwierig und schwierig.

II

In den ersten Tagen demokratischer Verwaltung befinde ich mich im Büro von Javier González, der mein Freund und Sprecher der neuen Regierung ist. Er organisiert eine Pressekonferenz und bittet seine Assistentin, einen Saal herzurichten. Kurz darauf kommt sie zurück: „Es gibt keine Lautsprecheranlage.“ – „Haben sie sie gestohlen?“ – „Nein. Es hat nie eine gegeben. Die Leute im Materiallager sagen, daß bei Bedarf immer eine gemietet wurde. Daß sie einem Herrn gehört, der zu jeder Tages- und Nachtzeit kommt, daß es kein Problem ist.“ – „Wie oft im Jahr werden in diesen Gebäuden Pressekonferenzen durchgeführt?“ – „Vielleicht zweihundertmal?“ – „Und die Anlage wird zweihundertmal gemietet?“ – Die Sekretärin nickt. – „Für wieviel?“ – „Jeweils 2.500 Pesos.“ – „Wieviel kostet eine Lautsprecheranlage für Pressekonferenzen?“

Ich kann nicht umhin, mich einzumischen: „Die von Clinton, mit vier Boxen und allem Schnickschnack, kostet etwa 15.000 Pesos. Es geht ja nur um einen Verstärker, ein Mikrophon und zwei Boxen.“

Schweigend rechnen wir nach. Mit den ersten sechs Mietzahlungen wäre die Anschaffung amortisiert, die folgenden 194mal wird das Geld hinausgeworfen, damit es jemandem zugute kommt, der, wie wir alle wissen, dieses schmutzige und monumentale Geschäft mit demjenigen, der es ihm angeboten hat, unter der Hand gegen eine Belohnung ausgehandelt hat.

Doch das ist noch nicht das Schlimmste.

Um eine Lautsprecheranlage zu kaufen, muß man einen Antrag stellen, ein Anschaffungsformular ausfüllen. Die Versuchung ist groß, die Dinge schlecht zu tun.

Hier wird die Pressekonferenz nun ohne Verstärkeranlage durchgeführt werden, doch an anderen Stellen, zu anderen Gelegenheiten wird die neue Verwaltung eben „wie üblich mieten“.

III

Die neuen Verwalter leben mitten im Chaos. Es gilt, sich in einem Sumpf fortzubewegen, der voller Informationslücken und Widersprüche steckt. Manchmal sind Gerüchte am verläßlichsten.

Es werden Gebäude benötigt, für die neuen Kulturprojekte, für Kindertagesstätten, Gesundheitszentren, Büroräume. Gebäude, die es erlauben würden, andere Bauten zu verlassen, die von den Erdbeben beschädigt wurden.

Es hieß, es gebe einen Katalog von 30.000 Immobilien im Besitz der Stadt Mexiko. Bei einer Überprüfung ergibt sich, daß es sich bei vielen um Parks handelt, um Gärten, Felder, Märkte. Man lebt im Widersinn.

Die Stadt hat etwa hundert Gebäude für Büros angemietet, während es andererseits Gebäude gibt, die an Privatpersonen vergeben wurden, verliehen, ohne daß die Stadt irgend etwas dafür bekommen würde.

Bei der ersten Durchsicht des Katalogs tauchen zehn öffentliche Gebäude auf, die der PRI für zehn Jahre illegal geliehen worden sind. Ohne daß das für die Stadtverwaltung irgendeinen Nutzen brächte. Man erzählt sich Geschichten, zum Beispiel die von den Brachflächen im Besitz der Hauptstadt, die monatelang von Privatunternehmen in Parkplätze umgewandelt wurden, welche dann, nachdem sie viel Geld aus der Nutzung gezogen hatten, irgendwann einfach verschwanden.

IV

Die Stadt Mexiko ist nicht nur mit unglaublichen Schuldenbergen zurückgelassen worden, auch ihre Haushaltsmittel für die Zukunft waren bereits verplant. In einem Verwaltungsbezirk entdeckt man, daß die Hälfte des Geldes, das für öffentliche Bauvorhaben vorgesehen war, bereits gebunden ist – in einem Vertrag zur Bemalung der Gehsteigkanten mit gelber Farbe.

Während die Stadt einstürzt, wird ein Unternehmen, an dem vermutlich die ehemaligen Funktionäre beteiligt sind, sich der Auswahl des gelben Farbtons für die Gehsteigkanten widmen.

V

Es ist wie in einer schlechten Vorabendserie: Mikrofone und Videokameras, die vom alten Regime in den Büros hinterlassen wurden. Diese Kerle sehen sich nicht einmal vor. Zuvor hatte ich endlose Geschichten gehört über gestohlene Unterlagen, über kleine und große Ohren, über Typen, die hinter den Türen horchen.

Die beste Methode, sie zu neutralisieren, ist einfach, die Türen auszubauen, sagt meine Freundin Rosaria.

VI

Der neue Generalstaatsanwalt liest die Statistiken, die beweisen, daß die Welle der Kriminalität in Mexiko-Stadt zurückgegangen ist. Ich habe keinen Grund, seinen Zahlen nicht zu glauben. Dennoch ist Kriminalität nicht statistisch, sie ist eine Sauerei, die plötzlich vom Himmel fällt, sie ist ein soziales Raunen.

Immer die gleichen Geschichten: Polizeistreifen, die Autofahrer auf der Stadtautobahn überfallen und sie zum Geldautomaten begleiten, um ihr Konto leerzuräumen; ein junges Mädchen, das von blauuniformierten Polizeibeamten verprügelt wurde; ein westerntauglicher Überfall mitten am Tag im Stadtteil Doctores, von dem ein Taxifahrer erzählt.

Andere Zahlen sagen: In Mexiko-Stadt werden täglich siebenhundert Straftaten angezeigt, vielleicht sind es noch einmal so viele, die aus der Überzeugung heraus, daß eine Anzeige fruchtlos ist und der Schaden ohnehin nicht wiedergutgemacht wird, gar nicht angegeben werden. Von diesen Delikten kommen nur fünfzig vor Gericht, noch weniger werden verurteilt. Nur ein Prozent der Fälle wird aufgeklärt.

Bei den Ermittlungsbehörden von Mexiko-Stadt liegen 60.000 unerledigte Verfahren, für die 64 Beamte zuständig sind. Das macht tausend Fälle für jeden im Jahr, drei pro Tag. Arbeiten sie wirklich daran? Leiten sie die Ermittlungen der Polizei? Lesen sie die Akten?

Was kann die neue Regierung tun gegen eine Kriminalität, die aus dem sozialen Abstieg der Polizei und der Wirtschaftskrise erwachsen ist? Auf wen kann sie sich verlassen? In anderen Bereichen der Verwaltung gab es ausgebildete Profis. Was gibt es hier? Korrupte Polizisten, die, wenn sie entlassen werden, Entführungs- oder Überfallkommandos organisieren.

Ich zweifle nicht an den Absichten des Generalstaatsanwaltes und einiger seiner engsten Mitarbeiter. Doch es gibt für Themen wie dieses nur radikale und gesellschaftliche Lösungen, die selbstverständlich langfristig sind.

Diese Nacht liege ich wach.

VII

Ich verberge nirgends die enorme Sympathie, die ich für Cuauhtémoc Cárdenas hege. Ich glaube, daß er einen natürlichen Sinn für Gerechtigkeit besitzt, daß er nicht mit Wählerstimmen dealt und daß er versteht, daß Kriege sowohl durch Taten als auch auf der symbolischen Ebene ausgetragen werden. Seine persönlichen Taten: sich das Gehalt kürzen, den hohlen Pomp aus den Zeremonien verbannen, in ein weniger luxuriöses Büro umziehen, an Stadtteilfesten teilnehmen, ohne Ankündigung in Krankenhäusern auftauchen, die Kontrollen am Eingang der Bürogebäude abschaffen, auf Leibwächter verzichten. Es sind Taten, die der Logik des Symbolischen gehorchen und die wir verstehen.

Doch es gibt nicht viele Beispiele dieser Art. In der Verwaltung wird gesündigt durch Schüchternheit und Formalismus.

VIII

Ganz allmählich beginnt man diese Ameisenarbeit zu bemerken, hinter dem Anschein des Stillstands.

Früher wurde für die Erneuerung eines Führerscheins ein Schmiergeld verlangt, die Standardformel war: „Wie hätten Sie ihn gerne, langsam oder schnell?“

Heutzutage trauen sie sich das nicht mehr. Wenn du ihnen etwas anbietest, nehmen sie an, aber sie verlangen es nicht mehr; sie befürchten, daß du sie anzeigst und sie ihnen dann den Kopf abschneiden. Der Zangengriff wird langsam spürbar.

IX

Ein Funktionär für das Bauwesen sagt der Belegschaft des Bezirks Cuauhtémoc: „Repariert nichts, wenn die Anwohner es nicht vorher verlangt haben. Unsere Aufgabe ist es, die Nachfrage zu befriedigen. Das macht einen guten Eindruck.“

Die Leute vom Bezirk schauen den Typen an, als käme er vom Mars. Er gehörte schon zur vorherigen Verwaltung. Zum Glück geben sie keinen Pfifferling auf ihn.

X

Ich glaube immer noch und Wunder. Woran sonst? An die höchste Macht des Geldscheins über die Moral?

Die Zeit arbeitet für die neuen Verwalter. Nach und nach wird der Zangengriff von ehrlichen Funktionären und Bürgern Biß bekommen. Langsam werden die Knäuel entwirrt, die Untätigkeit besiegt werden, im Sumpf sich Pfade auftun.

Es wird nicht leicht sein.

Paco Ignacio Taibo II, Jahrgang 1949, lebt als Krimiautor und Journalist in Mexiko-Stadt. In der Hamburger Edition Nautilus erschien 1997 sein Buch „Che. Die Biographie des Ernesto Guevara“ (68 Mark). Taibos Text übersetzte Miriam Lang aus dem Spanischen.