■ Ausgerechnet in dem Moment, in dem mit Rot-Grün ein echter Fortschritt zu vermelden ist, reckt der alte Fundamentalismus sein Haupt
: Eingerichtet im Katastrophenbunker

Kürzlich berichtete das ZDF über Gruppen von Leuten, überall in der Republik, die fest mit einer baldigen Apokalypse rechnen. Sie haben ihre Wohnungen mit kostspieligen Frühwarnsystemen durchzogen und sich in ihren Kellern Riesenvorräte an eingelegten Pfirsichen, Trockenmilchpulver und Zerealien zusammengehamstert. Mit Tisch und Bett und sogar kleinen Unterhaltungsnischen eingerichtet, wirken ihre Bunker eigentlich ganz gemütlich. So gemütlich, scheint es, haben es sich andere mit dem Menetekel von der Berliner Republik gemacht. Sie mögen es gar nicht mehr hergeben, auch nachdem der Wahlausgang Spekulationen auf einen wiedererwachenden revanchistischen Wilhelminismus doch recht unwahrscheinlich gemacht hat (auch ein Stadtschloß macht noch keinen Hindenburg).

Die Kommentare zur Eröffnung des Potsdamer Platzes – eines ganz offensichtlich gelungenen Amalgams aus moderner Kapitalrepräsentanz, städtischer Unterhaltungskultur und praktischer Einkaufsmeile – lasen sich mitunter als galliges Provinzlergegreine („Wo ist denn der Platz? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“). Es ist, als führten wir den Gespensterreigen nach der Wiedervereinigung noch einmal auf, bei dem die Linken, in Warner- und Mahnerpose erstarrt, die Prozessionen der Erleichterten und Befreiten an sich vorbeiziehen lassen müßten.

Wahrscheinlich steckt auch der gleiche fatale historische Instinkt dahinter: daß diesem Land, das so unauslöschbare Schuld auf sich geladen hat, auf immer der Zugang zu republikanischem Glück und Selbstbewußtsein verwehrt gehört. Walser hatte völlig recht: So agiert man in der Hoffnung, für immer auf der anderen Seite zu stehen, womöglich sogar der der Opfer.

Nun ist aber die verwirrende Situation eingetreten, daß „unsere“ Leute, daß die ehemaligen Warner Brothers selbst, an die Regierung gelangt sind. Die andere Seite ist plötzlich die Vorderseite. Joschka Fischer wird Außenminister, Jürgen Trittin Umweltminister und Otto Schily Innenminister! Und sie nehmen umstandslos in Angriff, wofür man jahrzehntelang getrommelt hat: Ausstieg aus der Atomenergie; Reform, ach was sag ich! – Revolution des Staatsangehörigkeitsrechts; Steuerreform und womöglich eine Kulturpolitik, die diesen Namen verdient und sogar in der Berliner Auguststraße mit Zustimmung rechnen kann. Man spricht die gleiche Sprache. Man braucht sich nicht mehr zu winden, wenn Staatsoberhäupter aus Deutschland mit einem Jospin, einem Clinton oder einem Blair zusammentreffen.

Es liegt plötzlich wieder Politik in der Luft, wo vorher kleinliches Ressentiment, chronisches Eingeschnapptsein und kernseifegewaschene Ruckreden die Regel waren. Man könnte also zumindest aufatmen. Aber ein Blick in die linksliberale Presse zeigt, daß die Einrichtung im Katastrophenbunker einfach zu gemütlich war, um jetzt aufgegeben zu werden. Erfolg ist unerträglich!

Auf die abwinkenden Kommentare zum Wahlausgang folgten die ersten greinenden Mäkeleien: Schröder, Fischer und wie sie alle heißen wollten doch schon immer Karriere machen („Spiegel-TV“ bot als Gewährszeugen für diese hinterwäldlerische These ausgerechnet Jutta Ditfurth und Thomas Ebermann). Und außerdem seien sie keine Frauen! Wieder einmal seien die Frauen, die den Wahlsieg immerhin errungen hatten (Sie allein? Hatten sie nicht wenigstens einen Koch bei sich?) dem Fegefeuer männlicher Eitelkeiten zum Opfer gefallen. Christian Ströbele hätte die historische Chance am liebsten schon nach drei Tagen am Transrapid zerschellen lassen, der nun heimlich still und leise ausblutet, weil er allen zu teuer ist.

Am schlimmsten war es gestern. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen war zu vermelden – auch in der taz. Ausstieg aus der Atomkraft? Hört sich ja schön an, aber! Es gibt ja nicht mal einen Zeitplan! Die SPD wartet doch nur darauf, aus Angst vor Entschädigungskosten umzufallen! Kontinuität der deutschen Außenpolitik, also Berechenbarkeit für unsere westlichen Bündnispartner und überhaupt die Welt, die nicht noch einmal am deutschen Wesen genesen will? Sollen sie doch gleich Kinkel im Amt lassen! Das neue Staatsbürgerschaftsrecht, das endlich den lange ersehnten und lange fälligen Schritt vom Abstammungs- zum Bodenrecht geht? Einen Schritt, mit dem Deutschland nun definitiv aus dem Schatten des Wilhelminismus und seines germanozentrischen Wahns aus- und in die Souveränität einer westlichen Demokratie eintritt? Irrelevant angesichts der „wahrhaft trostlosen“ Verhandlungen zum restlichen Komplex Innere Sicherheit.

Vor der unterbliebenen Entkriminalisierung der Bagatelldelikte, den zu wenigen Zentimetern Raum für weiche Drogen, dem verpaßten Einstieg in den Ausstieg aus dem Geheimdienstunwesen – vom Großen Lauschangriff ganz zu schweigen – und vor allem dem Schweigen zum Asylrecht verblaßt die Revolution der Rechtsgrundlagen unseres Zusammenlebens. Weil keine staatliche Ausgabe von Heroin beschlossen, der Bundesnachrichtendienst nicht aufgelöst, Großdealer aber belauscht und das Grundrecht auf Asyl nicht noch einmal bekräftigt (sondern als selbstverständlich angenommen) worden sind – aus solchen Gründen soll das gesamte Projekt bereits zum Scheitern verurteilt sein. Man müsse ja nur vergleichen, was die Grünen alles vor der Wahl gefordert haben, um zu sehen, wie jämmerlich die Resultate nun sind.

Ausgerechnet in dem Moment, in dem ein echter, verblüffender Sieg zu verzeichnen ist, reckt der alte Fundamentalismus sein Haupt. „Gut, das ist das Stück Brot, aber wo ist der Brotlaib“, hört man Brecht/Weill donnern. Man sieht jetzt deutlich, daß es diesem Fundamentalismus nicht um ein besseres Leben geht. Ginge es ihm darum, dann könnte niemand ernsthaft die Freigabe von Heroin gegen die Hunderttausenden ausspielen, die jetzt endlich deutsche Staatsbürger werden. Es geht eben um ein tödliches Prinzip: Ein besseres Leben, ein echter Fortschritt kann nicht da sein, wo wir jetzt sind. Schon gar nicht in Deutschland, das von der Geschichte noch immer nicht ausreichend gestraft worden ist. Der Fortschritt, das Glück müssen auf immer hinter einem eisernen Vorhang bleiben, in Utopia eben.

Es bleibt zu hoffen, daß sich die pragmatisch und mit großer rhetorischer Zurückhaltung agierende rot-grüne Regierung von den Fundamentalisten aller Seiten auch in Zukunft nicht entmutigen läßt. Für Pragmatismus wird man vielleicht nicht geliebt, aber doch gern wiedergewählt. Mariam Lau