■ Das „Bündnis für Arbeit“ kann nur dann zu einem Erfolg werden, wenn es zu einem Bündnis für freiwillige Nicht-Erwerbsarbeit wird
: Ein Leben jenseits der Arbeitslosigkeit

Mit dem „Bündnis für Arbeit“ hat Schröder die Wahl gewonnen. Beide Koalitionspartner haben es zum zentralen Projekt der neuen rot-grünen Mehrheit erklärt. Sie setzen sich damit einem enormen Erfolgsdruck aus. Die Arbeitgeber haben bereits Vorbedingungen formuliert, die ihnen – wenn es ernst wird – den Ausstieg erlauben: „Reformen“ der alten Regierung wie die Aushöhlung des Kündigungsschutzes, die Absenkung der Lohnfortzahlung, die Verschlechterung der Altersrenten dürfen nicht zurückgenommen werden. Die Gewerkschaften fordern – im Sinne der Wahlversprechen – das Gegenteil und setzen wieder verstärkt auf Wirtschaftswachstum durch Lohnsteigerungen.

Was strukturell in diesem Land verändert werden soll, wie die überfällige Reform der Arbeitsgesellschaft aussehen soll, ist weder von den einen noch den anderen zu hören. Auch die rot-grünen Verhandlungsführer haben bislang nicht viel mehr in Aussicht gestellt als die Beschäftigung von 100.000 arbeitslosen Jugendlichen und eine relativ vage umrissene Ökosteuer. Das reicht längst nicht.

Wer die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ernsthaft senken will, darf sich nicht nur als neutraler Moderator an einem „Bündnis für Arbeit“ genannten Runden Tisch verstehen. Wenn das „Bündnis“ ein Erfolg werden soll, dann muß die Politik die gesetzlichen Rahmenbedingungen so verändern, daß die Tarifparteien im beiderseitigen Interesse die Arbeitslosigkeit abbauen können.

Beispiel: Der holländische Weg einer extensiven Ausweitung der Teilzeitarbeit. Zwei wesentliche Voraussetzungen, die in den Niederlanden zuvor geschaffen wurden, fehlen in Deutschland: Eine existenzsichernde, erwerbsunabhängige Alterssicherung und eine Übernahme aller Beschäftigungsverhältnisse, auch jener mit niedrigster Stundenzahl, in das Versicherungssystem. Solange Teilzeitbeschäftigte in Deutschland sehenden Auges in die Altersarmut gehen müssen, wird es keine Umverteilung von Erwerbsarbeit durch Teilzeit geben. Solange viele niedrig qualifizierte Arbeiten in den 620/520-DM-Tagelöhnerstatus abgeschoben werden können, kann sich in diesem Bereich kein Sektor für reguläre Teilzeitarbeit entwickeln.

Beispiel: Der dänische Weg einer zeitweiligen Freistellung von Erwerbsarbeit. Das erfolgreiche dänische „Urlaubsgesetz“ hat Möglichkeiten zum zeitweiligen – teilweisen oder vollständigen – Rückzug aus der Erwerbsarbeit geschaffen. Wer sich fortbilden oder seinen Kindern widmen (oder eine Weltreise machen beziehungsweise nichts tun) will, kann sich bis zu einem Jahr in „freiwillige Arbeitslosigkeit“ begeben und erhält während dieser Zeit (je nach Grund der Freistellung unterschiedlich ausgestattete) Lohnersatzleistungen. Dieses Recht kann von jedem Beschäftigten individuell in Anspruch genommen werden. Es kann aber auch – mit Zustimmung der Betroffenen – durch Betriebsvereinbarung beziehungsweise Tarifvertrag verallgemeinert werden.

Die Dänen haben damit ein Instrument geschaffen, erwerbsarbeitsfreie Zeit von den Arbeitslosen auf jene zu verlagern, die aus welchen Gründen auch immer frei verfügbare Zeit haben wollen. Nach Untersuchungen werden die zeitweilig frei werdenden Stellen zu rund 60 Prozent mit zuvor Arbeitslosen besetzt. Zahlreiche „Job-Rotation-Projekte“ arbeiten mit 100 Prozent.

All das geht in Deutschland nicht. Denn wer arbeitslos ist, muß dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sich also gerade nicht – und sei es nur befristet – aus dem Erwerbssektor zurückziehen. Hierzulande wird der Druck auf die Arbeitslosen durch stärkere Zumutbarkeitsregeln usw. verstärkt, herrscht die politische Mentalität des Obrigkeitsstaates. In Dänemark hat man neue individuelle und kollektive Rechte geschaffen, gibt man den außerhalb des Erwerbssektors liegenden Zeitbedürfnissen der Beschäftigten sozial ausgestattete Entfaltungsmöglichkeiten. Das Gesetz ist beliebt, weil es Fortbildungs- und Orientierungsphasen ermöglicht und weil es den für viele junge Eltern schwer lösbaren Konflikt zwischen Erwerbs- und Familienarbeit deutlich entschärft. Weder das niederländische noch das dänische Modell setzen primär auf Wirtschaftswachstum, auf Vorteile im globalen Konkurrenzkampf – obwohl sich diese durch die mit den Reformen einhergehenden Produktivitätssprünge und eine begleitende kooperative Tarifpolitik sehr wohl eingestellt haben.

Entscheidend ist in beiden Fällen der positive Bezug auf die außerhalb des Erwerbssektors liegenden Zeitinteressen der Beschäftigten. Vor allem deshalb konnte, ganz ohne gesetzlichen Zwang oder spektakuläre Tarifkonflikte, eine Umverteilung der Arbeit durchgesetzt und die Massenarbeitslosigkeit weitgehend überwunden werden.

Wenn das angekündigte „Bündnis für Arbeit“ kein Flop werden soll, dann muß es in diese Richtung gehen. Davon haben alle etwas: Die Beschäftigten, weil sie sozial abgesichert sind und ohne Angst ihren Interessen außerhalb der Erwerbsarbeit nachgehen können; die Arbeitslosen, weil sie wieder Anschluß an den Erwerbssektor bekommen; die Arbeitgeber, weil Arbeitszufriedenheit, Flexibilität und Produktivität (zum Beispiel durch staatlich gestützte Fortbildungsprozesse) steigen; die Politiker, weil der Abbau der Massenarbeitslosigkeit die Staats- und Sozialkassen langfristig entlastet und soziale Spannungen abbaut.

Nichts gegen Lehrstellenzusagen der Unternehmer, gegen lohnpolitische Absprachen der Tarifparteien und alles, was sonst in den Bündnis-Verhandlungen zur Sprache kommen wird. All das ist nützlich, aber es geht nicht an die strukturellen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Auch mit der Ökosteuer und einer damit einhergehenden Senkung der Lohnnebenkosten ist es nicht getan.

Wir brauchen darüber hinaus eine wirksame Umverteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit. Die ist nicht möglich, solange an den gegebenen Strukturen der Erwerbsarbeit, also an der traditionellen, lebenslänglichen Vollzeit- Norm festgehalten wird. Es gibt auch ein Leben jenseits von Erwerbsstreß und Massenarbeitslosigkeit. Das „Bündnis für Arbeit“ kann nur dann zum Erfolg werden, wenn es zu einem „Bündnis für freiwillige Nicht-Erwerbsarbeit“ wird. Das gesellschaftliche Reformprojekt der rot-grünen Koalition besteht darin, dafür attraktive gesetzliche und strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen. Martin Kempe